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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 29.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Diamanten der Großmutter.


Von Levin Schücking.


(Schluß.)


Valentine schlug die Hände vor ihr von Thränen überströmendes Gesicht und wandte sich ab – es war ihr, als ob ein Strom von Zorn, Haß und Verzweiflung über dieses Mädchen, das mit so kühler Fassung und so ruhigem Selbstgefühl das Bewußtsein ihrer Verschuldung bei dem ganzen unseligen Ereigniß trug, ihr das Herz füllte bis zum Ersticken – es gehörte eine ihre Kräfte fast übersteigende Anstrengung der Selbstbeherrschung dazu, daß sie nicht ausrief:

„Vater, Vater, Du bist im entsetzlichsten Irrthum; sie, just sie und Gaston haben dies ganze unsägliche Elend veranlaßt und über uns gebracht!“

Es war gut, daß der stille, gebieterische, drohende Blick, mit dem Ellen eben ihre Augen suchte, sie nicht traf – hätte Valentine ihn wahrgenommen, die Empörung würde in ihr alle Schranken überstiegen, sie würde ausgerufen haben: „Ellen und Gaston sind die Schuldigen, und wenn diese Nacht ein Opfer gefordert hat, so kommt sein Blut auf ihr Haupt!“ Und dann, wenn damit diesen unbarmherzigen Feinden eingeräumt worden wäre, daß eine böse Absicht da gewesen, daß nicht alle Bewohner der Ferme so schuldlos seien, wie sie sich gaben, dann war ja die letzte Hoffnung verloren!

Valentine wankte fort; sie war im Begriff, ohnmächtig zu werden; das Gefühl einer grenzenlosen Verzweiflung über Maxens Ende, über ihres Vaters, ihr eigenes Schicksal überkam sie. Es erstickte sie; sie tastete mit der Hand nach der Lehne des nächsten Sessels. Bleich wie der Tod stand sie da; dann ließ sie sich niedergleiten in den Stuhl – ihr Vater wollte ihr beispringen … aber jetzt fuhr sie empor, fuhr empor mit einem herz- und markerschütternden Ausrufe – einem Rufe, so schmetternd aus dem innersten Herzen hervorbrechend, daß Niemand hätte sagen können, ob er Tod oder Leben, Hölle oder Seligkeit bedeute – es waren keine Worte, es war ein lautes Ausschmettern der beispiellosesten Erschütterung. Zugleich flog sie vorwärts, drei, vier Schritte vorwärts, öffnete ihre Arme und schlang sie in krampfhafter Heftigkeit um die Schultern eines ihr entgegeneilenden Mannes; und dann zusammensinkend fühlte sie sich von den starken Armen dieses Mannes umschlungen, der die Ohnmächtige an sich preßte und dabei zugleich im höchsten Grade erschrocken rings um sich blickte.

Es war Max Daveland, Niemand anders als er, der, eben rasch über die Terrasse dahergekommen, durch die Glasthür stürmisch in den Salon trat, von allen zuerst von Valentinens brechendem Blick wahrgenommen.

„Daveland!“ rief Sontheim, rief Herr d’Avelon, riefen Beide wie aus Einem Munde – und auch Merwig rief es, der, eben aus dem Innern des Hauses kommend, wieder eintrat, mehrere Leute, die er einführen wollte, hinter sich und diese jetzt wieder zurückweisend.

„Sind Sie’s oder Ihr Gespenst?“ fuhr Sontheim fort. „Wo Teufel haben Sie gesteckt? Wissen Sie denn, daß wir, während Sie Ihre Morgenspaziergänge machen, hier eben im Begriff sind, Ihretwegen ein Dutzend Todesurtheile zu sprechen und die Ferme des Auges dem Erdboden gleich zu machen, weil wir sie für die Mördergrube hielten, in der Sie überfallen und um’s Leben gebracht seien …“

„Gerechter Gott!“ rief Max erbleichend. „Das ist doch nicht Ihr Ernst, Sontheim?“

„Ich bin im Dienste hier, Lieutenant von Daveland – und im Dienste, das wissen Sie doch, pflege ich keine Späße zu machen – Sie werden sich wegen Ihres Verschwindens von der Compagnie zu verantworten haben!“

„Wenn Sie wirklich glaubten, ich sei ermordet, so finde ich die Art, wie Sie jetzt Ihre Freude über meine Rettung und mein Wiedererscheinen ausdrücken, höchst originell, Hauptmann von Sontheim,“ entgegnete Max nach Athem ringend; und sich über Valentine beugend, die er sanft in den Fauteuil, den sie vorhin gesucht, niedergelassen hatte, rief er:

„Valentine – ist dies wahr? ist dies möglich? – o dann sagen Sie mir auch, daß Sie mir diese Stunde, die ich über Sie gebracht, verzeihen! O mein Gott, in welche Lage habe ich Sie gebracht!“

Herr d’Avelon war schweigend mit weitgeöffneten Augen, mit tiefen Athemzügen langsam auf Max zugegangen; dies plötzliche Wiedererscheinen mochte ihm nicht minder als die Art und Weise, wie seine Tochter dies Wiedererscheinen aufnahm, die Sinne ein wenig schwindeln machen – er streckte seine beiden zitternden Hände aus nach Max, legte sie auf seine Schulter, und mit ebenso zitternder Lippe sagte er:

Sie giebt der Himmel uns wieder – mir und, wie ich sehe, mehr noch meiner Tochter!“

Valentine hatte ihre Augen aufgeschlagen, ein Strom von Thränen stürzte daraus hervor – sie konnte nicht anders, sie legte ihre beiden Arme wieder um den Hals des jungen Mannes, der vor ihr niedergekniet war, und verbarg ihr schluchzendes Gesicht an seiner Brust.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_463.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)