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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

unterscheiden, die unabhängig von einander existiren. Ein Krankenwärter, Blohm, nicht zu verwechseln mit dem genannten Herrn Bohm, hat ebenfalls von der Stadt schon seit längerer Zeit ein Stück Feld gepachtet und es in gleicher Weise gegen eine mäßige Vergütigung anderen Obdachlosen überlassen. Er selbst wohnt bereits seit einigen Jahren sowohl im Sommer wie im Winter in einer von ihm errichteten und mit Rasen bedeckten Bretterhütte, so daß er als der eigentliche Gründer der Baracken angesehen werden kann. Wie der Präsident Schmidt übt auch er eine gewisse obrigkeitliche Macht aus. Wir hielten es daher für unsere Pflicht, Herrn Blohm unsere Aufwartung zu machen, und lernten in ihm einen verständigen und wohlwollenden Mann kennen, der uns bereitwillig auf seinem Gebiet umherführte und uns über Alles die gewünschte Auskunft gab.

Seine Colonie gefiel uns noch weit besser, als die frühere Niederlassung, und die Bewohner derselben schienen uns noch solider und vornehmer, als das Volk des Herrn Schmidt. Wir besuchten hier einen geschickten Ciseleur, der im Freien Capitäle aus Zink goß und uns recht gelungene Proben seiner Arbeit zeigte. Seine Hütte zeichnete sich vor Allem durch einen gewissen Luxus aus. Die Bretter waren mit Oelfarbe angestrichen, die Fenster von innen mit weißen Gardinen, von außen mit einer sogenannten Marquise versehen. An den Wänden waren künstlerische Verzierungen, Consolen und Figuren angebracht. Rings herum zog sich ein nur kleiner, aber sorgfältig gepflegter Garten, mit frischen Pflanzen und mit einer Laube, worin eine freundliche Frau und ein niedliches Kind saßen. Das Ganze hatte einen idyllischen Anstrich und erinnerte keineswegs an Noth und Elend. Der nächste Ansiedler war ebenfalls ein Handwerker und zwar ein Stuccateur, der eben im Begriff stand, sein Haus aufzubauen. Zu diesem Ende wurden von ihm vier Pfähle in die Erde festgerammt, die Bretter darauf gelegt und angenagelt. Der Preis einer solchen Hütte variirt von fünfundzwanzig bis zu vierzig Thalern, je nach der Größe und Solidität. Der Bau selbst nimmt drei bis vier Tage in Anspruch. Der neue Ansiedler schien, nach seinem Hausrath zu urtheilen, ein gut situirter Mann zu sein. Er besaß anständige Möbel, sogar Spiegel, Commoden, eine Wanduhr, lackirte Wassereimer, einige Blumentöpfe, darunter junge Palmen, die den künftigen Garten zieren sollen. Seine Tochter, ein reizendes, schlank gewachsenes Mädchen von dreizehn Jahren, hatte ein feines, intelligentes Gesicht; sie war nett gekleidet und besuchte, wie sie uns sagte, die Töchterschule in der Köpniker Straße.

Aber nicht nur Menschen, sondern auch Thiere finden in diesen Baracken ein freundliches Asyl. Vor den meisten Hütten lagen Hunde, welche vor herumstreifenden Strolchen die unverschlossenen Thüren bewachen. Auf dem Rasen der Dächer spielten zahme Kaninchen und Katzen im goldenen Sonnenschein. Selbst zwei Pferde besaß bereits die Colonie, und Herr Blohm war gerade, als wir ihn aufsuchten, mit der Errichtung eines Nothstalles für dieselben beschäftigt. Die Thiere gehörten einem Arbeitsmann, der sie zum Transport von Waaren, Sand und Steinen benutzt. Da er ungeachtet aller Anstrengungen keinen Stall in Berlin finden konnte, so hatte er seine Pferde nach dem Cottbuser Damm gebracht, wo sie vorläufig eine Nacht unter freiem Himmel campiren mußten.

Ganz besonders interessirte uns, das gegenseitige Verhalten der Ansiedler zu beobachten. Die unmittelbare Nachbarschaft, die hier herrschende unbedingte Oeffentlichkeit aller Verrichtungen, die zwanglose Lebensweise ließ uns annehmen, daß manche Uebelstände sich daraus entwickeln und leicht Veranlassungen zu Streit und Zank sich einstellen müßten. Nach den von uns eingezogenen Erkundigungen ist dies keineswegs der Fall. Zwischen den verschiedenen Familien herrscht, mit seltenen Ausnahmen, ein durchaus freundlich höflicher Verkehr. Wie wir selbst bemerken konnten, spricht kein Nachbar von und mit dem andern, ohne ihm den Titel „Herr“ zu geben, und auch die Frauen beobachten in noch höherem Grade eine gewisse Etiquette im Umgang. Die Kinder vertragen sich und waren so artig, daß sie unsere Bewunderung erregten. So lange wir verweilten, hörten wir kein rohes Wort, weder Zank noch Lärm. Vielleicht wirkt gerade die Oeffentlichkeit, das Gefühl der gemeinsamen Noth und selbst ein gewisser Märtyrerstolz in dieser Beziehung vorteilhaft.

Allerdings scheint es auch in Barackia nicht an Conflicten ganz zu fehlen, da zwischen den getrennten Colonien eine Art Eifersucht herrscht und sich auch hier der deutsche Nationalcharakter, der angeborene Individualismus und Sondergeist, geltend macht. So wollte der Präsident Schmidt um keinen Preis uns nach der Colonie des Herrn Blohm begleiten, an deren Grenze er sich von uns verabschiedete, so daß wir ein gespanntes Verhältniß zwischen den beiden Würdeträgern annehmen durften. Bis jetzt hat aber die Berliner Polizei noch keine Veranlassung gehabt, sich in die inneren Angelegenheiten der neuen Republik zu mischen. Wir selbst wurden in keiner Weise belästigt und von keinem Bettler angehalten, obgleich bei dem zahlreichen Besuch wohlhabender Fremden die Versuchung nahe liegt. Nur ein alter, augenscheinlich verkommener Mann sprach uns um eine kleine Gabe an, wobei er sich aber vorsichtig umsah, als fürchtete er von seinen Mitbürgern belauscht zu werden. Leider zeigt sich bereits auch in Barackia die herrschende Speculationswuth. Unterhändler pachten von Herrn Blohm einzelne Parcellen, die sie zu höheren Preisen an die jüngsten Ansiedler vermiethen; andere übernehmen gleichfalls mit entsprechender Provision den Bau der Hütten, woraus allerdings Zwistigkeiten entstehen, die den bisherigen Frieden zu stören drohen.

In ihrer gegenwärtigen Gestalt bietet jedoch die Republik „Barackia“ ein höchst interessantes und keineswegs abschreckendes Schauspiel aus dem Berliner Leben. Wenn auch diese Ansiedlung ein trauriges Licht auf die socialen Uebelstände unserer Weltstadt wirft und gewissermaßen den glänzenden Aufschwung derselben in letzter Zeit grausam parodirt, so muß man dagegen den gesunden Sinn des Volkes, seine Leichtigkeit, sich in die schwierige Lage zu finden, seine Fähigkeit und das Verständniß für das große Princip einer wirksamen Selbsthülfe mit Recht anerkennen. Nichts destoweniger drängen sich dem Menschenfreund ernste Bedenken und Zweifel auf, ob die augenblicklich gehobene Stimmung andauern kann, ob überhaupt derartige Zustände sich mit unserer Civilisation, mit unseren Lebensgewohnheiten und Anschauungen auf die Länge der Zeit vertragen, wie dies unter ganz anderen Bedingungen in Amerika der Fall ist.

Schwerlich wird die junge Republik über den Sommer hinaus ihr Leben fristen, da bereits am 1. October der Contract der Stadt mit den beiden Pächtern abläuft, abgesehen davon, daß die Mehrzahl der Hütten nicht für die Aequinoctialstürme und die Winterkälte berechnet ist. Wir müssen daher mit Freuden die Nachricht begrüßen, daß unser Magistrat, wie wir erfahren, eine Commission ernannt hat, welche Vorschläge zur Abhülfe der Wohnungsnoth machen und für ein zweckmäßiges Asyl der obdachlosen Familien Sorge tragen soll.

Max Ring.




Blätter und Blüthen.


Große Fürstensorge. Bei dem gewaltigen Umschwunge der Neuzeit und dem angebahnten, allmählichen Verschwinden lächerlich kleinstaatlicher Einrichtungen dürfte es geboten sein, das nachfolgende Actenstück, welches solche während einer Zeit ihrer schönsten Blüthe in köstlicher Weise kennzeichnet, durch Abdruck in der Gartenlaube der Nachwelt zu erhalten.

Dies Actenstück betrifft die Rangordnung des vormaligen Herzogthums Sachsen-Hildburghausen mit den Städten Hildburghausen, Eisfeld, Heldburg, Ummerstadt, Königsberg in Franken und dem Amtsflecken Sonnefeld.

Der ganze Staat umfaßte zehn Quadratmeilen mit der Riesenzahl von 25,000 Seelen, und kam bekanntlich mit Ausschluß von Königsberg und Sonnefeld an das Herzogthum Sachsen-Meiningen; diese Annexion geschah im Jahre 1826 durch Erbtheilung. – Wagen wir es, den hochwichtigen landesherrlichen Ukas so viel als thunlich wörtlich wiederzugeben:

„Demnach der Durchlauchtigste Fürst und Herr, Herr Ernst, Hertzog zu Sachsen, Jülich, Cleve und Berg etc. gnädigst resolviret haben, daß hinfüro so wohl bey Dero Hoffstadt, als auch sonsten bey andern ehrlichen Zusammen-Künfften und Processionen, zwischen Dero Ministers, hohen und niedern Bedienten, auch andern zu rangirenden Personen eine gewisse Ordnung im Rang beobachtet und dadurch aller Confusion und Collision abgeholfen werden möge; Als haben höchstgedacht Ihro Hochfürstliche Durchlaucht nach jetzt vorgekommenen Umständen und Motiven folgende revidirte Location aufsetzen, in Druck bringen und gebührend publiciren lassen:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_461.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)