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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

ihrem Vorsprung an Alter, noch mit dem Reis durch den Garten jagen würde – eine Weissagung, die ich auch seiner Zeit erfüllt habe. Uebrigens wäre ich in den ersten Lebensjahren bei einem Haar verloren gewesen; ein unvorsichtiges Kindermädchen gab mir eine Backpflaume, ohne zuvor den Stein herauszuthun; dieser setzte sich quer in die Kehle und brachte eine Geschwulst hervor, die mich mehrere Stunden dem Ersticktode aussetzte. Der Arzt gab mich bereits auf, aber die Natur hatte noch keine Lust, mich in ihren Mutterschooß zurückzunehmen, und half mir durch ein heftiges Husten durch: der Stein flog heraus und verrieth die Lüge des Kindermädchens, das in seiner Todesangst steif und fest behauptet hatte, es habe mir die Pflaume ohne den Stein in’s Händchen gegeben. Die übrigen herkömmlichen Kinderkrankheiten habe ich gut überstanden; mein Vater erzählte mir später, daß ich beim Scharlach ein sehr geduldiges Kind gewesen sei und stets auf seine Anmahnung bereitwillig die heißen, fiebernden Händchen wieder unter die lästige Decke gesteckt habe. Alsdann nahm mich mit etwa sieben Jahren ein Schleimfieber hart mit; ich habe davon eine Erinnerung bewahrt und fühle noch das schaudernde Entzücken, mit dem ich in der Genesung das erste Glas starken weißen Weines heruntertrank, den der Arzt zur Stärkung verordnet hatte. Seitdem bin ich mein Leben durch eine gesunde Natur geblieben, nachdem ich im Uebergang vom Jüngling zum Mann die Gefahr glücklich überwunden hatte, in die Schwindsucht zu verfallen.

Zu dieser künftigen Gesundheit hat unstreitig die ganz vortreffliche physische Erziehung beigetragen, die wir Kinder erhielten. Unseren Eltern wurde freilich solche Erziehung sehr durch die äußeren Lebensbedingungen erleichtert, die uns umgaben. Das Pfarrhaus lag inmitten eines Vierecks von Grundstücken, das einen starken Morgen Landes umspannte und nach allen vier Seiten durch Wirthschaftsgebäude, Mauern und Hecken von der Welt draußen abgeschlossen. war. Ein Drittel des Grundstücks bildete einen schattigen Baumgarten, der das mannigfachste Obst trug und sonst zum Graswuchs diente. Daran schlossen sich zwei Gemüse- und Blumengärten, in denen es wieder an Strauch- und Spalierobst nicht fehlte. Endlich blieb ein immer noch geräumiger Hof mit Nußbäumen übrig, an dessen eine Seite sich die Stallungen, die Scheune und das Kelterhaus anschlossen. Hier trieb sich Geflügel aller Art herum, unter dem uns Kindern immer der stattliche Haushahn am merkwürdigsten war; denn der Vater sorgte stets dafür, daß er davon ein stolzes Prachtmuster auf seinem Hofe hatte. Besonders groß war die Freude und die Erwartung, wenn eine Henne brütete und man nun jeden Morgen eilfertig zum Neste lief, um nachzusehen, ob noch kein Küchlein sich durchgepickt hätte.

In allen diesen mannigfaltig bebauten und bepflanzten Räumen durften wir nun frei herumlaufen, und waren also bei Tage nur im Freien heimisch, wenn nicht die Lernstunde uns an die Stube fesselte. Morgens sprang ich mit der Schwester sofort den kürzesten Weg aus der Schlafstube in den Baumgarten, nämlich frischweg durch’s Fenster, und dann gab’s im Herbste einen Wettlauf nach dem Birnbaume, von dem uns in der Regel der Morgenwind die schönsten, reifsten Früchte zum Frühstück in’s Gras geschüttet hatte. Von dieser Zeit her bis heute ist unter Allem, was Menschen essen können (und dessen ist viel), Obst meine höchste Leidenschaft geblieben. Alle übrige Kost in unserm Hause war derb und gesund, obwohl der Tisch stets mit Feinheit bereitet wurde; wir Kinder mochten gar keine Wecken essen, sondern zogen das kräftige, wohlschmeckende Schwarzbrod vor; statt der Butter diente im Winter Pflaumenmuß, dessen Kochen im Herbst eine Hauptfreude für uns war. Ein besonderes Fest gab es, wenn an vorzüglich heißen und sonnigen Sommertagen es von uns durchgesetzt wurde, daß wir in der Laube aßen, die ihren dichten Maibuchenschatten in einem Winkel des Baumgartens wölbte.

Jede solche Mittagstafel war eine Idylle; mein Vater führte wie ein Patriarch den Vorsitz; sein ehrwürdiges Silberhaupt entblößend, sprach er feierlich das Tischgebet, dem wir Kinder jedes einen kleinen Spruch nachfolgen ließen. Wir waren nicht allein, das Federvieh aus Hof und Baumgarten machte sich alles herbei, der Hahn ging zum Vater und pickte Brodkrusten aus seiner milden Hand; auch die kecken Spatzen kamen herangehüpft und fanden gleichfalls ihr Brosämlein, das einem Huhn zu klein dünkte. Draußen aber sangen in den Bäumen und im Gesträuch der Hecke die Vögel, und ein Schwälbchen zwitscherte vom dürren Aste eines nahen Apfelbaumes. Dann kam die kalte Schale von frischer Milch mit Brod, Zucker und Zimmet, der ein selbstgezogenes Gemüse und etwa ein Paar junger Tauben aus unserem Schlage folgten; den Nachtisch holten wir uns selbst, nachdem das Danksagungsgebet gesprochen war, an den Johannis- und Stachelbeersträuchern des Gartens; denn Obst kam bei uns nie auf den Tisch, weil man ja nur die Hand auszustrecken brauchte, um Pflaume oder Apfel sich frisch vom Baume zu langen. Das Schönste dabei war die weise Sorglosigkeit der Eltern in Hinsicht auf die Diät. Man gab uns zu essen, so oft wir verlangten, und weil wir somit immer haben konnten, forderten wir nur, wenn wir wirklich Hunger hatten. Da Obstessen uns nie verboten wurde, so warteten wir von selbst, bis es reif war, und aßen uns niemals krank. So fragten auch Vater und Mutter dem nicht nach, ob ich einmal Winters in Hemdsärmeln auf den Hof lief, mit Schneebällen warf oder Schneemänner machte; denn sie schlossen sehr richtig, daß, wenn ich fröre, ich schon von selber meine Jacke anziehen würde. Einzig und allein war uns verboten, auf die Straße zu gehen, und in dem Bezirk, der das Pfarrhaus umschloß, gab es keine Gefahren für uns.

Dieser glücklichen Sorglosigkeit danke ich es vor Allem, daß ich trotz der anstrengendsten Geistesarbeiten eine frische und noch immer rüstige Kraft in’s Mannesalter hineingerettet und durch sie manchen bösen Windstoß gebrochen habe, mit dem das Schicksal auf mich eingestürmt ist.

Neben diesem Spielen und Genießen in freier Luft wurde ich dann auch schon von meinen frühesten Jahren an zu leichten körperlichen Arbeiten angehalten. Den Garten sowohl als ein Gemüsegrundstück, das draußen in der Flur des Dorfes lag, bestellte mein Vater selbst, und da ein Theil der Pfarreinkünfte vom Ertrage dieser Grundstücke, mehrerer Weinberge und einiger Buschflecke abhing, so gab es in Hof, Feld und Wald beständig allerlei Landwirthliches zu arbeiten. Im ersten Frühling wurde in unseren Büschen das Brennholz geschlagen und durch Tagelöhner im Hofe zerhauen. Dabei gab es für uns mit Auf- und Abladen, mit zierlichem Schichten der Reiswellen und mit Hinauftragen des zerspällten Holzes in Schuppen und Speicher genug zu thun. Nachher mußten die Spähne zusammengelesen und selbst das Sägemehl zum Dünger geworfen werden; denn der Hof sollte stets reinlich sein, und es war Grundsatz meines Vaters, nichts umkommen zu lassen. Etwas später, wenn die frühen braunen Schmetterlinge und die Citronenfalter ihre Schwingen an der jungen Sonne ausbreiteten, half ich der Mutter, die den Blumengarten zu bestellen hatte, beim Einsetzen der Tulpenzwiebeln und jätete Unkraut aus Beeten und Wegen. Im Mai liefen wir Morgens mit der Großmutter in den Garten, um Spargel zu stechen, und wetteiferten, wer vor dem Andern noch eins der röthlichen Köpfchen entdeckte, die, über Nacht emporgeschossen, so neugierig unter einer halb aufgehobenen Erdscholle herausguckten. Dann wurden mit dem Vater Pflanzen gesäet, versetzt und am schwülen Sommerabend begossen. Der Spätsommer brachte das Bohnenschneiden, der Herbst das fröhliche Einthun des Obstes. Erst wurde wochenlang das abfallende geringere Obst aufgelesen und auf die Kelter geschüttet, um Apfelwein aus ihm zu bereiten; dann aber bekam ich neben einer tüchtigen Warnung, mich nie auf dürre Aeste zu verlassen, den Auftrag, das feinere Obst aus den höchsten Baumspitzen herunterzubrechen. Da habe ich denn ganze herrliche Herbsttage droben in der scharfen, klaren Luft verbracht, auf schwankem Baumwipfel mich schaukelnd und von seiner Höhe die prangende Flur ringsum und den Strom mit der nahen Stadt und die prachtvollen Häupter der blauen Siebenberge überblickend. Und war nun der Baumgarten von seinem Segen ganz entleert, dann wurde das Laub reinlich zur Streu zusammengerecht; Aeste aber, Dornen, Kohlstrünke, und was sonst den Ueberschuß des ländlichen Arbeitsjahres bildet, schleppten der Vater und ich auf einen hohen Haufen zusammen, und von diesem wurde dann im November einen ganzen Tag hindurch ein Herbstfeuer gezündet, um die Asche zu feinem Dünger zu gewinnen und am Abend in den Kohlen Kartoffeln zu braten. Dieser Schluß der Arbeit war wieder ein Hauptfest, und wir sammelten den ganzen Sommer über alles Mögliche von unnützem Brennstoff, um die Freude der

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