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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

einstigen Lehrer, sondern auch die umfassendste Auskunft über Land und Leute seiner Heimath hören.

Vermißt der verwöhntere Reisende vielleicht auch in Tirol die freilich oft sehr theueren Bequemlichkeiten der Schweizer Hôtels, so hat dagegen das Reisen in Tirol desto mehr Gemüthliches und Ansprechendes für den weniger Anspruchsvollen. Da ich aber zu dieser letzteren Menschenclasse gehöre, so gebe ich dem Tiroler Lande den Vorzug, und ich denke, daß ich auch viele Gesinnungsgenossen habe, die sich gleich mir immer wieder nach dem herrlichen Tirol hingezogen fühlen.

V.




Meine Kindheit.[1]
Von Gottfried Kinkel.
(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)
I.


Mein Geburtsort, das Dorf Oberkassel, welches hart am Rheinufer im Siegkreise der preußischen Rheinprovinz liegt, ist gewiß, und nicht blos in meiner Erinnerung, einer der lieblichsten Erdflecke, die es giebt. Malerisch zwischen Obstbäumen seine Häusergiebel erhebend, ruht es an einer von schroffen Basaltfelsen überstiegenen Berglehne, die einen nördlichen Ausläufer des unvergleichlichen Siebengebirges bildet. In einer Stunde erreicht man von hier Königswinter, in zweien ersteigt man den Gipfel des sagenberühmten Drachenfelsens. Noch näher winkt vom jenseitigen Rheinufer der runde Thurm des Godesbergs, und ein leichter Marsch eines Sommernachmittags führt von dort nach Nonnenwerth und dem Rolandseck, dessen eingestürzten Bogen jüngst ein deutscher Dichter neu gewölbt hat. Mehr stromabwärts, wiederum in einer Stunde erreichbar, liegt auf dem jenseitigen Ufer das freundliche Bonn, und nach dieser Seite weitet sich nun das bis dahin von Felsen verengte Rheinthal in die große norddeutsche Ebene aus. Die sanften Höhenzüge, in welche hier die beiden stolzen Gebirgsketten der Eiffel und des Westerwaldes auslaufen, geben diesem herrlichen Landstrich den doppelten Reiz des Berglandes und der Ebene, und tragen auf ihren der Mittagssonne zugewendeten Flanken die letzten Weinberge, welche der Rhein besitzt. Ueber meiner Heimath, zwischen Wald, Weinberg und Getreidefeldern, zieht sich durch das nahe Dörfchen Berghausen ein Fahrweg hin, der im weiteren Fortlauf zum höhern Bergland emporsteigt. Dort möcht’ ich zumal den nordischen Wanderer unerwartet hinstellen, um ihn mit Einem Blicke die Herrlichkeit und ganz unerschöpfliche Segensfülle meines Rheinlandes überschauen zu lassen!

Ein tüchtiges Menschengeschlecht bewohnt diesen Theil des rechten Rheinufers. Eine Meile unterhalb Oberkassel strömt die Sieg ihre blauen, oft wilden Bergwasser in weitem Kiesbette dem Rheine zu. Die Anwohner der Sieg sind wie ihr herrlicher Bergfluß, kühl und klar in ruhiger Zeit, aber auch wie er schäumend und tiefwühlend, wenn ein Gewitter die Strudel schwellt. Sie haben den stolzesten Stammbaum unter allen Deutschen: es sind ja die Nachkommen der trotzigen Sigambern, die der römischen Eroberung am Rheine beständig eine Grenze gesetzt haben. In der That findet sich auch im Siegkreise keinerlei Ueberbleibsel römischen Ursprungs, während das gegenüber liegende linke Rheinufer massenweis Münzen und andere Denkmale zu Tage fördert. Später sind aus diesen Gegenden die welterobernden Franken vorgebrochen und haben von hier aus den Niederrhein, Belgien und Nordfrankreich gewonnen. Noch heute ist dieser Landstrich, der sich über den Westerwald bis in die Gegend von Siegen und zu Jung-Stilling’s Heimath ausdehnt, von der verflachenden Civilisation der Ebenen verschont geblieben. Große Städte hat er nicht; aber reich an Wald und Wild, an Kohlen und Metallen, nährt er einen kraftvollen, selbstbewußten Menschenstamm. Ein guter Theil davon sind Bergleute, ein wackerer Zusatz der Bevölkerung, weil ihre ernste, düstere und einsame Beschäftigung den Charakter härtet, während doch wieder die Cameradschaftlichkeit des ganzen Lebens allen Ideen eine rasche Verbreitung giebt. Die eigentliche Rheinebene, über welcher jenes Bergland aufsteigt, nährt sich von Acker- und Weinbau; mein Heimathdorf wird außerdem von Steinbrechern bewohnt, denen der treffliche Basalt der umliegenden Höhen ein auskömmliches Verdienst sichert.

Im Mittelalter, als das ganze Rheinthal in kleine Herrschaften zerschnitten war, deren Grenzen oft höchst wunderlich durcheinanderliefen, gehörte Oberkassel mit einigen Schlössern des Siebengebirges zu der später zum Herzogthum erhobenen Grafschaft Berg, und lag somit wie eingeschlossen zwischen dem kurkölnischen Gebiet, zu welchem abwärts die Siegmündung, südlich schon wieder der Drachenfels gehörte. So geschah es, daß ringsum unter dem Krummstab alles Land katholisch blieb, nachdem der vorschnell vorgenommene Reformationsversuch des Gebhard Truchseß gescheitert war, während in Oberkassel, wahrscheinlich von dem ziemlich nahen Wupperthal aus, eine reformirte Gemeinde sich gründen konnte. An dieser Gemeinde, die auf viele Meilen weit die einzige protestantische auf dem rechten Rheinufer war, stand mein Vater seit Beginn unsers Jahrhunderts als Pfarrer. Er selbst war indessen ein Nassauer und stammte aus der kleinen Stadt Herborn, die zwischen dem Westerwald und dem Lahnthal liegt. Dort hatte, als das heilige römische Reich noch bestand, eine reformirte Universität in Taschenformat für die nassauischen Landeskinder geblüht, obwohl Marburg und Gießen nur wenige Meilen weit entfernt lagen; denn jeder Staat mußte damals als Ehrensache seine Landesakademie haben. Dieser Umstand machte es meinem Großvater, der selbst nichts als ein armer, aber gottesfürchtiger Schuhflicker war, möglich, seine beiden Söhne dem Studium und zwar dem geistlichen Stande zu widmen. Der Eine derselben ist als Hagestolz und überstudirter Gelehrter vor etwa zwanzig Jahren in Herborn verstorben, wo er eine Stelle als lateinischer Lehrer bekleidete; dem Andern, meinem Vater (er hieß wie ich, Johann Gottfried), hat doch ein reicheres und beglückteres Leben geblüht. Der Proletariersohn erhielt, ich weiß nicht durch welche Verbindungen, einen Ruf, um als Hauslehrer in die hocharistokratische Familie v. Cloet einzutreten, die auf dem Schlosse Lauersfort bei Meurs wohnte. So in’s Amt des Erziehers einmal eingeweiht, ist er hernach zum Regens der lateinischen Schule in Solingen und von dort in gleicher Eigenschaft nach Elberfeld berufen worden, wo der gegenwärtige Hofprediger Ehrenberg in Berlin sein Schüler war. Allein die theologische Ader in ihm ließ ihm auf der Schulkanzel keine Rast: er blieb neben seiner doch immerhin angesehenen Stellung beständig Candidat des Predigtamtes, hielt auf allen vacant werdenden Stellen seine Probepredigt, und folgte zuletzt, als die arme, kleine Gemeinde Oberkassel ihn erwählte, mit Freuden diesem Rufe und seinem inneren Trieb, obwohl er an Einkommen und äußerer Stellung dadurch bedeutend sich erniedrigte. Vielleicht verräth schon dieser Zug, daß Etwas von meines Vaters Natur auf mich übergegangen ist.

Man konnte deutlich bemerken, daß der Pfarrer seine erste Weltbildung in aristokratischem Kreise empfangen hatte. Aus der engen Werkstätte des Vaterhauses war er mit jähem Wechsel in den Schooß einer feinen Adelsfamilie versetzt worden, und die zierliche Manier des Informators, der auf seine Person und Erscheinung

  1. Der Herr Verfasser schreibt uns über obigen Beitrag: „Der Director der Strafanstalt zu Naugardt forderte mich auf, eine Beschreibung meines Lebens zu geben. An so ein Buch hätte ich in der Freiheit niemals gedacht: dort war die Erlaubniß, mich geistig beschäftigen zu dürfen, mir sehr erwünscht. Herr Schnachel war ein Ehrenmann. Als ich später zur Verschärfung meiner Strafe nach Spandau versetzt wurde, bewahrte er die Handschrift und gab sie mir viele Jahre nachher zurück. Der Mann ist todt: er war noch in London mein Gast – ein vortrefflicher Mensch, der in seinem schweren Amte sich ein menschlich Herz gerettet hatte. Ihm kann jetzt die Veröffentlichung nicht mehr schaden. In den sechs Monaten, daß ich zu Naugardt war, habe ich die Biographie bis zu meinem Eintreten in die Revolution, März 1848, fortgeführt. Die Leute, denen Etwas darin wehe thun könnte, sind im Grabe, und Manches in meiner Kindheit war so schön und lehrreich, daß Vieles davon sittlich eine Wirkung machen könnte, z. B. in der Erziehung. Ich meine, das ist so recht ein Beitrag für die Gartenlaube.“Die Redaction.     
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_455.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2020)