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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Meinem Vater war es ganz unheimlich zu Muthe. Er suchte die Unterhaltung abzukürzen, und als Fleurant schied, lud er ihn nicht zum Wiedersehen ein. Fleurant ließ sich auch niemals wieder sehen. In unserer Fabrik ward nach Jahren noch von ihm gesprochen, aber von Arbeitern, die ihn nicht gekannt. Man dichtete ihm allerlei Abenteuer an, so daß er endlich zum sagenhaften Helden wurde. Ich, der ich ihn als zwölfjähriger Knabe in unserem Hause gesehen, erinnerte mich seiner Gestalt noch sehr gut und ich hörte mit Interesse zu, so oft mein Vater von ihm sprach. –

Manches Jahrzehnt ist seitdem dahingeschwunden. Mein guter Vater ruht längst im Grabe, und bei der Sorge um eine zahlreiche Familie tauchten die Bilder aus meiner ersten Jugend immer seltener in meiner Erinnerung auf. Da brach der furchtbare, für Frankreich so verderbenvolle Krieg aus, und als ob dieser Krieg noch nicht genug des Unglücks, des Elends, des Jammers über mein armes Vaterland gebracht hätte, zerfleischten sich Frankreichs Söhne untereinander. Auf den blutigen Winter folgte ein blutigerer Frühling. Der Wonnemonat wurde für uns Pariser ein Monat des Schauders und des Schreckens. Der Donner der Kanonen, das Geknatter der Chassepotgewehre hatte die Vögel aus den blühenden Zweigen der Elyseischen Felder verscheucht, und wo sonst sich Schaaren fröhlicher Spaziergänger drängten, lagen jetzt Sterbende und Leichen durcheinander. Mit angstgequältem Herzen legte man sich zu Bette, und wenn der Morgen anbrach, sah man zitternd und zagend dem kommenden Tage entgegen. Die Stunde der Entscheidung rückte indessen immer mehr heran.

Es war Dienstag am dreiundzwanzigsten Mai. Man schlug sich im Faubourg St. Honoré und auf den Barricaden in der Rue Royale, wo bereits viele Häuser in Flammen standen. Mein Sohn hatte, ohne mich zu fragen, das Haus verlassen, um eine uns verwandte Familie zu besuchen. In der Rue St. Lazare wollte er wieder umkehren, als ein Föderirter ihn faßte und ihn zum Kampfe schleppen wollte. Beide rangen mit einander, und schon wollte der Föderirte von seiner Waffe Gebrauch machen, als ihm eine Faust in’s Genick fuhr und ihn bewußtlos zu Boden stürzte. In demselben Augenblick jedoch knallte ein Schuß, der dem Befreier meines Sohnes den rechten Schenkel verletzte und ihn taumeln machte, ohne ihm indessen die Geistesgegenwart zu rauben. Es war ein hochgewachsener, breitschulteriger Greis mit schneeweißen Haaren.

‚Tragt mich nach meiner Wohnung!‘ sagte er zu den Leuten, die inzwischen herbeigekommen. Mein Sohn, der sich im Zweikampfe den linken Arm verstaucht hatte, war einer Ohnmacht nah. Er ermannte sich aber und gewann einige Männer, die unter seiner Begleitung den Verwundeten nach seiner Wohnung in der Rue Maubeuge trugen. Diese Wohnung befand sich im fünften Stock und bestand aus einem kleinen Zimmer und einem Alkoven. Der Greis nannte sich François. Mein Sohn ließ sogleich einen Chirurgen kommen, der die Wunde verband und dieselbe nicht für gefährlich erklärte. Nachdem er auch seinen Arm verbinden lassen, empfahl er im Hause, seinen Lebensretter auf’s Sorgsamste zu pflegen, kehrte auf vielen Um- und Nebenwegen in’s Haus zurück und erzählte mir, was ihm widerfahren.

So gefährlich es auch war, an dem genannten Tage das Stadtviertel zu besuchen, in welchem der Verwundete wohnte, so besann ich mich doch nicht lange und eilte zu ihm, um ihm für die Rettung meines Sohnes zu danken. Ich fand ihn auf dem Bette liegend und eine Pfeife rauchend. Auf meine Danksagungen erwiderte er, daß er seine Pflicht gethan und nichts mehr, daß seine Wunde unbedeutend sei, da die Kugel blos einen Muskel gestreift.

Ich sagte ihm, daß es mich freue, dies zu vernehmen, daß die Gefahrlosigkeit seines Zustandes jedoch meine Dankbarkeit nicht vermindere. ‚Lassen Sie sich nichts abgehen!‘ schloß ich. ‚Ich werde Sie morgen wieder besuchen, und sollten Sie inzwischen etwas bedürfen, so schicken Sie nur zu mir.‘

Ich legte meine Karte auf den Tisch und nannte meinen Namen und meine Wohnung.

Kaum aber hatte ich meinen Namen ausgesprochen, als der Greis sich schnell aufrichtete und rief: ‚Sie sind George H …, der einzige Sohn des Fabrikanten Claude H …?‘

‚Der bin ich!‘ sagte ich.

‚So habe ich das Glück gehabt, die Wohlthaten des Großvaters an seinem Enkel zu vergelten!‘ rief er. ‚Ich bin Fleurant!‘

‚Sie nennen sich jetzt François?‘ fragte ich, nicht wenig überrascht.

‚Ich habe meinen Namen mehrere Male geändert,‘ sagte er mit einem Seufzer. ‚Ich heiße weder François, noch Fleurant.‘

Ich wollte keine unangenehme Erinnerungen in ihm erwecken und schwieg.

Er fing wieder an von meinem Vater zu sprechen und äußerte, daß dessen Tod ihm viel Kummer verursacht habe.

‚Sie wissen also, daß mein Vater gestorben?‘ fragte ich.

‚Ich habe der Beerdigung beigewohnt,‘ sagte er; ‚und ich glaube nicht, daß sein Tod irgend Jemandem mehr zu Herzen gegangen als mir.‘ –

Ich sah ihn jetzt täglich. Aber statt schnell zu genesen, wie ich gehofft, ward er täglich schwächer. Vor vierzehn Tagen sagte er ruhig, ja fast heiter: ‚Es geht mit mir zu Ende. Ich habe in einem Augenblick der Leidenschaft einen Mord begangen; doch habe ich zwei Menschen vom Tode gerettet. Ich hoffe, daß mir dies da oben gut angeschrieben ist. Glauben Sie nicht?‘

Ich nickte bejahend.

Als ich am folgenden Abend in seine Wohnung trat, fand ich ihn nicht mehr unter den Lebenden.

Sie wissen nun, wer der Mann war, dem ich mit meinem Sohne die letzte Ehre erwiesen.“

„Ihre Erzählung hat eine Lücke,“ bemerkte ich. „Was ist aus Fleurant’s Gattin geworden?“

„Er hat mir kurz vor seinem Tode zu wiederholten Malen eine alte, fast erblindete Frau dringend empfohlen,“ sagte mein Freund. „Ich habe dieselbe sogleich aufgesucht und sie aus ihrem engen Dachstübchen im Faubourg St. Antoine in eine Pension bringen lassen, wo sie ihre letzten Lebenstage sorgenlos zubringen wird. Den Schleier, der ihre Vergangenheit deckt, mag ich nicht lüften.“ –




Eine schöpferische Ohrfeige.


Die Ansbachschen Jungen von Anno 1806 ließen es sich natürlich nicht nehmen, offenen Mundes am Straßenrande den einziehenden Franzosen zuzusehen oder vielmehr den Marodeurbanden, welche dem Heerkörper voraufzogen. Es war dies ein nichtsnutziges Gesindel, und leider! es waren Deutsche! – Ein kleiner langaufgeschossener Kerl von etwa sechs Jahren, der Führer der Jungenschaar, der in dem damals gut preußischen Ansbach schon mit der Muttermilch echte nationale Gesinnung eingesogen hatte, theilte seinen Genossen in wenig respectvollen Worten seine Empfindungen beim Anblick dieser Horden mit. Da brannte aber auch rasch eine gewaltige Ohrfeige auf seine Wange. Einer der struppigen Söldnerschaar hatte sie dem Knaben verabreicht, und die schmerzhafte Thatsache belehrte den Kleinen, daß die Einziehenden Landsleute seien in des fremden Eroberers Solde.

Diesen Schlag in’s Gesicht hat der lebhafte Junge niemals vergessen. Er entzündete in des Knaben Seele eine Flamme des Hasses gegen die fremdländischen Eindringlinge, welche noch heute in dem Greise lebendig brennt, und tiefe Beschämung bemächtigte sich seiner bei der Entdeckung, daß Männer, welche des Knaben liebe Muttersprache redeten, sich hergaben zur Unterdrückung und Bekämpfung des eigenen Vaterlandes. Auf eigene Hand mit Hülfe einiger wagehalsiger Cameraden fing er schon damals an, den National-Feind zu bekämpfen. Steine und Hopfenstangen waren die Waffen der kleinen Helden, und als sie eines Tages

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_441.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)