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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Die Geschichte ist unendlich reich an solchen – man kann sagen traurigen – Beispielen, wo Menschen, von diesem unwiderstehlichen Nachahmungstriebe erfaßt, sich selbst die größten Schmerzen zufügten und in denselben schwelgten. Ich erinnere hier nur an jene schreckliche Epidemie der Flagellanten.

Die umgekehrte Erscheinung, daß die auf eine empfindliche Stelle gerichtete Aufmerksamkeit den Schmerz erheblich steigert, ist uns ebenfalls geläufig. So erhöht die Furcht vor einer Operation durch die fortwährend auf diesen einen Punkt gespannte Erwartung ganz ungemein die Empfindlichkeit. Ein Beispiel hierzu aus meiner Studienzeit steht mir noch in lebhafter Erinnerung. An einem kräftigen robusten Mann, der nebenbei Soldat war, sollte in der chirurgischen Klinik eine verhältnißmäßig leichte und wenig schmerzhafte Operation vollzogen werden. In Rücksicht darauf wurde von der sonst üblichen Chloroformirung abgesehen, obwohl das unglückliche Opfer große Furcht und Zaghaftigkeit verrieth. Als das Messer angesetzt wurde und der Operateur den ersten Schnitt that, erhob unser Held ein furchtbares Zetergeschrei und benahm sich so ungebehrdig, daß die Operation einen Augenblick unterbrochen werden mußte. Natürlich empfing er die lebhaftesten Vorwürfe und die Anrede: „Pfui, schämen Sie sich, wie können Sie nur bei einer so wenig schmerzhaften Operation sich so gefährlich anstellen!“ entlockte ihm die höchst naive, aber sehr bezeichnende Antwort: „Ich glaubte, es würde weher thun.“ – Nachdem er sich nun aber überzeugt, daß die Operation wirklich nicht so unerträglich sei, ließ er sich die Fortsetzung derselben ganz ruhig und ohne auch nur eine Miene zu verziehen, gefallen.

Sehen wir in diesem Beispiel einen vorhandenen Schmerz durch die lebhafte, wenn auch falsche Vorstellung von seiner größeren inneren Kraft wirklich gesteigert, so ist die ebenfalls erwiesene Thatsache, daß man durch scharf auf einen bestimmten Punkt gerichtete Aufmerksamkeit einen Schmerz an demselben erzeugen kann, noch viel auffallender. Besonders bei gewissen krankhaften Zuständen des Nervensystems erreicht diese Fähigkeit einen ungewöhnlich hohen Grad, und so sind vorzüglich die unglücklichen Hypochonder wahre Virtuosen in derartiger Erregung schmerzhafter Empfindungen. Man thut diesen Leuten bitteres Unrecht, wenn man ihnen sagt, sie bildeten sich den Schmerz blos ein. Nein, sie empfinden ihn wirklich, sie bilden sich denselben, so zu sagen, an. Sobald sie von irgend einem krankhaften Zustande hören oder lesen, sofort richtet sich ihre Aufmerksamkeit mit ängstlicher Spannung auf das Organ, von dessen leidendem Zustande die Rede war, und es dauert auch gar nicht lange, da empfinden sie an der bestimmten Stelle den Schmerz wirklich und wahrhaftig, an den sie so lebhaft gedacht. Es giebt deshalb für diese Leute nichts Verderblicheres als das Lesen und Herumstöbern in populär-medicinischen Büchern, zu denen sie sich aber gerade mit einem unwiderstehlichen Triebe hingezogen fühlen. Daß jedoch auch nicht hypochondrische Personen dieser Gewalt der Vorstellungen auf ihre Empfindungsnerven unterliegen, das beweist unter Anderem das Beispiel des berühmten Arztes Peter Frank. Dieser behandelte einen von Tollwuth oder Wasserscheu ergriffenen Patienten und untersuchte noch kurz vor dem Tode des unglücklichen Kranken, der schon ganz mit kaltem, klebrigem Schweiß bedeckt war, dessen Puls. Unmittelbar danach verspürte er in der Spitze der beiden Finger, mit denen er den Kranken berührt hatte, ein unheimliches und ihn beängstigendes Brennen und Beißen. So oft er auch dasselbe zu betäuben suchte durch Waschen mit Essig und Seifenwasser, die unwillkürlichen Vorstellungen, mit der Furcht vor der schrecklichen Krankheit gepaart, riefen jene lästige Empfindung immer wieder hervor und erst nach fünf Wochen verschwand dieselbe, nachdem seine Einbildungskraft sich beruhigt und er sich so lange Zeit umsonst die völlige Grundlosigkeit seiner Vorstellungen vordemonstrirt hatte.

Wir haben hier also die Thatsache vor uns, daß die Empfindungsnerven, statt, wie wir an ihnen gewöhnt sind, einen empfangenen Reiz von der Oberfläche nach dem Mittelpunkt, das heißt nach Rückenmark und Gehirn zu leiten, scheinbar in entgegengesetzter Richtung einen im Gehirn entstandenen Reiz nach der Peripherie übertragen. So auffallend diese Thatsache auf den ersten Blick erscheint, so ist sie uns doch aus dem alltäglichen Leben nicht fremd. Wir wissen, daß ein Stoß an einer bestimmten Stelle des Ellenbogens nicht allein hier, sondern auch an den gar nicht betroffenen Ausbreitungen der gequetschten Ellenbogennerven im vierten und fünften Finger empfunden wird.

Wir haben ferner in dem oben angeführten Beispiel vom freiwilligen Hinken dieselbe Erscheinung. Auch hier wurde eine auf den Stamm des Hüftnerven ausgeübte entzündliche Reizung nicht an dem Ort der Affection selbst, sondern an der Oberfläche des Nerven (im Kniegelenk) empfunden. Ein anderes, noch viel auffallenderes Beispiel liefert uns die chirurgische Praxis. Der Verwundete, dem der zerschmetterte Fuß schon längst abgenommen ist, empfindet bei Reizung des an der Wundfläche zu Tage liegenden Nervenstumpfes einen heftigen Schmerz in den Zehen, die er gar nicht mehr besitzt. – Alle diese Thatsachen sind Beispiele zu dem allgemein gültigen Gesetz von der sogenannten Excentricität der Empfindung, welches dahin lautet, daß jede Neigung eines Nerven, sei’s im Verlauf seines Stammes, sei’s an seiner Wurzel, in Rückenmark und Gehirn, durch einen Trugschluß von uns unwillkürlich an seine periphere Ausbreitung verlegt wird, gewissermaßen deshalb, weil wir im normalen Verhältnisse nur von hier aus Empfindungserregungen zu empfangen gewohnt sind. Bei schweren Rückenmarksleiden, welche die Nerven während ihres Verlaufs im Rückenmark zerstören, werden heftige Schmerzen in der Extremität empfunden, und die übergroße Schmerzreizbarkeit, die wir in den obigen Beispielen kennen lernten, hängt auch mit krankhaften Zuständen des Gehirns und Rückenmarks zusammen, namentlich trägt eine unvollkommene, schlechte Ernährung überwiegend häufig die Schuld an diesen Erscheinungen. Darum sehen wir blutarme Menschen, bleichsüchtige Damen vor Allem an dieser Ueberempfindlichkeit leiden. – Es befindet sich bei diesen das gesammte Nervensystem in einem Zustande der Ueberreizung. Sowie jede leise Berührung der Tastnerven Schmerz verursacht, so wird auch jedes etwas grelle Licht, nicht selten eine besondere Farbe wie das Roth, jeder etwas schrille Ton, jedes laute Geräusch für die Unglücklichen eine Quelle unangenehmer Empfindungen. Und in ganz derselben Weise wirken auch lebhafte plötzliche Vorstellungen und Gemüthserregungen sehr leicht erschütternd auf sie ein. Da auch die Bewegungsnerven an dieser Ueberreizung Theil nehmen, treten nicht selten die verschiedenartigsten Krämpfe auf, die besonders häufig den Charakter der Lach- und Weinkrämpfe annehmen. Alle diese Erscheinungen weisen, wie gesagt, auf eine unzureichende Ernährung der Nervencentren, auf eine mangelhafte Blutbereitung hin, und darum wird bei der Behandlung sogenannter nervöser Damen ein vernünftiges diätetisches Verhalten das beste Mittel sein, um vorhandene Schmerzen zu heben oder zu lindern.

Es wäre ein thörichtes Beginnen, wenn der Arzt in solchen Fällen sein Hauptaugenmerk darauf richten wollte, die Schmerzen durch Betäubungsmittel zu tödten, und dabei die zunächst liegende Aufgabe vergäße, die Ursache des Schmerzes zu heben. Freilich ist das Letztere nicht immer möglich; nicht selten übt der Schmerz eine so vernichtende Gewalt auf den Organismus aus, daß alle anderen Heilbestrebungen daran scheitern. In diesen Ausnahmefällen ist das Bedürfniß, Ruhe zu schaffen, das dringendste. Der Schmerz hat aber hier seine Schuldigkeit gethan; er hat als ein Lärmsignal die drohende Gefahr verkündet, und erst als man seinen Ruf überhörte, wurde sein Mahnen heftiger und dringender. Wir können seine segensreiche Aufgabe auch hier nicht verkennen, und das war ja der Punkt, auf den ich besonders hinweisen wollte.




„Sie weinet ja, wie wir, mein Kind!“

Wohl segnen schon die zweiten Halmen
Den Acker, wo die Feldschlacht war,
Wohl hallten schon die zweiten Psalmen
Auf von des Friedens Hochaltar.

Die großen Feste kehren wieder,
Der Freuden Rose wird gepflückt,
Wo zu dem Tag der deutschen Lieder
Mit Fahnen sich die Straße schmückt.

Beim Jubelmahl – seht, sie erheben
Für Sieg und Ehre hoch das Glas!
Sie lassen selbst die Todten leben –
Und auf den Gräbern wächst das Gras.

Lebt denn kein Schmerz von festrer Dauer?
Such’ nur, wo ihn der Tag nicht sieht:
Der Wittwen und der Waisen Trauer,
Die in die stillen Winkel flieht!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_410.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)