Verschiedene: Die Gartenlaube (1872) | |
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nicht für die Einbildungen eines jungen Mädchens halte, aus denen er am Ende gar Schlüsse ziehen würde, die sie ihn nicht ziehen lassen wollte – um keinen Preis! Sie konnte sich ja irren – und dann, wie durfte sie Gaston so bloßstellen, einem Fremden gegenüber verrathen, daß sie ihn eines solchen bösen Planes für fähig halte – ja, sie mußte sich irren, denn unmöglich konnte Gaston vorhaben, durch einen solchen Handstreich ihren Vater, das ganze Haus zu compromittiren …
Valentine athmete auf, als sie diesem Gedankengange zu folgen begann – plötzlich aber stockte ihr Athem wieder. Sie vernahm ein Geräusch … bewegte sich nicht eine Thür in ihrer Nähe, leise und fast unhörbar? Die Angst hatte Valentinens Sinne geschärft; sie hörte eine Thür gehen und einen leisen Schritt auf dem Corridor obendrein.
Es mußte die Thür zu Miß Ellen’s Zimmer sein.
Valentine wandte sich, ergriff ihren Leuchter und setzte ihn ebenso rasch wieder nieder. Es war besser ungesehen zu beobachten, was Miß Ellen antrieb, ihr Schlafzimmer zu verlassen und heimlich den Corridor hinabzugehen. Valentine öffnete daher ihre Thür ebenso vorsichtig und leise und spähte auf den Corridor hinaus. Sie sah Miß Ellen, mit einem Lichte in der Hand, noch völlig angekleidet, an der nach unten führenden Treppe angekommen, schon halb auf dieser verschwunden. Valentine schlich ihr nach; sie betrat, als Miß Ellen unten angekommen war, die oberste Stufe der Treppe und schritt unhörbar auf dem weichen darüber liegenden Teppich hinab. Unten vom Flur aus sah sie durch die halb offen gelassene Thür des Eßzimmers bis in den Salon hinein, den Miß Ellen jetzt mit ihrem Lichte nothdürftig erhellte. Leise trat Valentine in das Eßzimmer; mit dem Arme sich an der Einfassung der Thür haltend, folgte sie mit den Augen allen Bewegungen Ellen’s; weiter voranzuschreiten in das Dunkel, das sie umgab, wagte sie nicht, in der Furcht, an einen Tisch oder ein Möbel zu stoßen und so sich zu verrathen; auch bedurfte es dessen nicht – sie sah genug!
Sie sah, wie Miß Ellen quer durch den Salon schritt nach der auf die Terrasse führenden Glasthür zu, diese, die wie immer Abends von Herrn d’Avelon selber vor dem Zubettgehen mit Läden geschützt, abgeschlossen und verriegelt war, wieder aufriegelte und aufschloß, leise ein wenig öffnete, so daß sie angelehnt stand, und dann zurückkam, denselben Weg, den sie gegangen. Valentine flüchtete sich in den Flur zurück; sie schlüpfte hinter den großen dort stehenden Wäscheschrank; von diesem Versteck aus sah sie nach wenig Augenblicken Miß Ellen quer durch den Flur, leise und behutsam auf dem Teppichstreifen in der Mitte auftretend, wieder der Treppe zugehen und auf dieser mit ihrem Lichte oben verschwinden.
Valentine drückte ihre beiden Hände auf ihr fieberhaft klopfendes Herz, erhob sie dann und drückte sie wie mit einer krampfhaften Gewalt an ihre beiden Schläfen; ein Schrei der Angst und der zornigsten Entrüstung schien sich von ihren Lippen losringen zu wollen und gewaltsam unterdrückt zu werden mit dem stürmischen Wogen ihres Busens … einen Schritt trat sie dann vor, richtete das Haupt auf, wie nach oben horchend – und dann nahm sie, ohne sich weiter zu besinnen, denselben Weg, den eben Miß Ellen gegangen, durch das Eßzimmer, den Salon, zu der Terrassenthür; diese öffnete sie geräuschlos so weit, um hinausschlüpfen zu können, eilte über die Terrasse, um die Ecke des Gebäudes herum, über den Hof, um die zweite Ecke – dann blieb sie an dem dieser Ecke zunächst liegenden Fenster stehen.
Da der Hof, nach rückwärts hin sanft aufsteigend, höher lag als die Terrasse vor dem Hause, stand sie völlig hoch genug hier, um leise an das Fenster klopfen zu können … ein Mal, zwei Mal, stärker zum dritten Male.
Sie hörte Schritte im Innern des Zimmers – dann das Aufschlagen der im Innern angebrachten sichernden Läden – endlich öffnete sich ein wenig der eine Fensterflügel, und der in der Dunkelheit nicht zu erkennende Kopf eines Mannes blickte heraus.
„Ich habe Ihnen etwas mitzutheilen,“ stieß Valentine kaum hörbar, kaum verständlich heraus. „Werfen Sie sich augenblicklich in Ihre Kleider – Sie müssen fort – eine große Gefahr bedroht Sie – man will in die Ferme einbrechen, man will …“
„Bei Gott, Sie sind es, Valentine! … Sie? eine Gefahr? … und Sie kommen, um mich zu warnen, um mich zu …“
„Sprechen Sie leiser, um Gottes willen, leiser, oder besser, sprechen Sie gar nicht, eilen Sie, sich zu kleiden, springen Sie zu diesem Fenster heraus … dann führ’ ich Sie – aber eilen Sie, ehe es zu spät ist!“
„Aber welche Gefahr kann es sein?“ …
Valentine hob wie bittend beide Hände auf.
„Glauben Sie mir doch nur, daß Ihr Leben vielleicht an einer Minute hängt!“ rief sie fast wie zornig aufwallend aus.
Max verschwand im Innern des Zimmers. Einige Minuten vergingen – dann öffnete sich der Fensterflügel ganz; Max streckte den Arm mit seinem Degen heraus, um diesen unten an die Mauer zu stellen; gleich darauf erschien seine Gestalt, auf die Brüstung des Fensters tretend; einen Augenblick später stand er unten im Hofe und steckte seinen Degen ein.
„Folgen Sie mir!“ sagte sie mit einem Tone, der halb zitternd, halb gebieterisch klang, und wandte sich, um den Hof zu verlassen.
„Sie wollen mich führen – durch diesen Regen, diese kalte Nacht, und haben nicht einmal ein Tuch, nicht den geringsten Schutz!“ rief Max aus.
„Die Kälte wird mir nicht schaden,“ versetzte Valentine voraufschreitend, „ich spüre sie nicht, und der Regen hat aufgehört.“
„Und wozu,“ fuhr Max, an ihrer Seite jetzt dem gen Void hinausführenden Hofthore zueilend, fort, „wozu diese seltsame Flucht – so reden Sie doch, welche Gefahr fürchten Sie denn für mich?“
„Ist es Ihnen nicht genug, wenn ich Sie versichere, daß die dringendste Gefahr für Sie da ist, daß … mein Gott, ist es denn schon zu spät?“ unterbrach sie sich, plötzlich stehen bleibend, „sehen Sie dort, dort hinaus!“
Sie wies durch das jetzt unmittelbar vor ihnen weit offen stehende Hofthor, von dem ein Weg abwärts sich über einen Flurrücken der Chaussee nach Void zuschlängelte – der Weg für das Ackergefähr, das den von der vordern Terrasse durch den Garten und die Allee führenden herrschaftlichen Weg nicht benutzen durfte.
„Sehen Sie nicht Licht da unten?“
„Ich sehe allerdings ein Licht sich dort in der Ferne bewegen – es muß eine Laterne sein!“
„Man wird den Weg nach Void schon besetzt haben, er wird Ihnen abgeschnitten sein – vielleicht ist unser Haus rings umher schon umstellt – mein Gott, was beginnen?“ flüsterte das junge Mädchen. „Es bleibt nur Eines – kommen Sie hierher, hierher!“
Und in furchtbarster Erregung wandte sich Valentine und nahm mehr laufend als schreitend die entgegengesetzte Richtung, dem andern Hofthore zu, dem, durch welches am Nachmittag Max mit Gaston geschritten war.
„Aber ist denn ein ganzes Detachement wider mich im Anmarsch?“ fragte Max, der fast Mühe hatte, an ihrer Seite zu bleiben.
„Ein ganzes Detachement – ja, vielleicht ist es so, vielleicht eine ganze Schaar!“
„Franctireurs?“
„Was kommt auf den Namen an?“ fiel Valentine eifrig ein. „Hören Sie nichts?“
Sie waren zwischen den Hecken, die draußen den leise aufsteigenden Weg begrenzten, angekommen, und Valentine blieb hier lauschend stehen.
„Ich bilde mir ein, ganz in der Ferne vor uns Schritte zu hören – aber die feuchte schwere Last erstickt jedes Geräusch und macht es schwer, etwas zu unterscheiden … ich täusche mich vielleicht …“
„O nein, nein, kommen Sie hierher!“
Valentine schlüpfte durch einen kleinen Einschnitt in der Hecke, der sich links neben ihr befand, und eilte nun zwischen den Beeten eines Gartens, in den sie eingetreten, weiter. Am Ende des Gartens befand sich ein kleines hölzernes Gatterthor; sie öffnete dieses und ging weiter über eine mit kurzem Grase bewachsene Halde, über die ein für Maxens Augen nicht zu erkennender Fußweg lief, und dann weiter die Höhe hinauf, in das Gehölz hinein, das am Rande der Halde begann und den oberen Theil der Höhe bedeckte. Von rechts und links her schlugen der hastig Vorwärtseilenden die feuchten Zweige und Blätter entgegen. Valentine schien es so wenig zu achten, wie sie das feuchte Gras auf der Halde geachtet hatte. Ein eigenthümlich entschlossener
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_400.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)