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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

meiner Vaterstadt war, bei dem engen patriarchalischen Familienleben und dem vollständigen Abschließen nach außen, diese Schonung noch größer; die jüngern Frauen beobachteten dieselbe sogar in Kleinigkeiten, um nicht die strenggläubigen Matronen zu verletzen. Sie kleideten sich zwar wie Christinnen, weil in Bezug auf die weibliche Kleidertracht der Talmud glücklicherweise keine Vorschrift von sich gegeben; keine jüngere Frau würde sich aber damals erlaubt haben, eine stark ausgeschnittene Haube zu tragen, oder sich gar entblößten Hauptes sehen zu lassen, da einer talmudischen Vorschrift zufolge die verheirathete Jüdin ihr Haar selbst vor ihrem Gatten sorgfältig verbergen muß.




Ein literarisches Geheimniß.


Unter den Taschenbüchern und Almanachen, diesen Schmetterlingen einer früheren Literaturperiode, zeichnete in den dreißiger Jahren sich eins der ersteren durch jeglichen Mangel äußeren Schmucks und soliden Anstandes aus. Es war, als ob dasselbe durch seine schlechte Ausstattung, Papier und Druck und die Abwesenheit aller Goldschnitte und Kupfer, womit die übrigen auf den Nipptischen der Damen sich breit machten – seinen Namen „Bettlers Gabe“ rechtfertigen wollte, während der Inhalt des Buchs, nur Beiträge des Herausgebers enthaltend, sich doch durch eine überaus glühende Phantasie und eine Fülle eigenthümlicher, düsterer Bilder und Lebensansichten auszeichnete. Eine uns bis dahin fremde Welt trat uns aus den Geschichten, Sagen und Bildern, die zumeist auf russischem Boden spielten, entgegen. Es war, als habe die Muse des Verfassers, einem zweiten Mazeppa gleich, einen nächtlichen Ritt durch die Steppen des Ostens unsers Erdtheils gemacht, als habe der Mann, der diese Schriftstellerfeder geführt, nur Bitteres im Leben erfahren, als habe er nur die Nachtseiten des menschlichen Herzens und seiner Mitmenschen kennen gelernt.

Und doch hatte auch dieser Mann nicht immer so düster gedacht; er hatte unter dem Namen Adami manch heiteres Lustspiel voll sprudelnder Laune bereits geschrieben und zur Aufführung gebracht, ehe er als Novellist und Romanschriftsteller, als Herausgeber von „Bettlers Gabe“, unter dem Namen Wilhelm Müller auftrat.

„Wer ist Wilhelm Müller?“ fragten dazumal die Almanachleser beim Erscheinen genannten Taschenbuchs, das Jahr um Jahr in seiner schmucklosen Außenseite erschien, bis es mit seinem siebenten oder achten Jahrgange, nach Berlin übersiedelnd, ein mehr gefälliges, taschenbuchmäßiges Aeußere annahm, ja in seinem zehnten Jahrgange pro 1844 sogar das Porträt des Verfassers brachte – mit düsterblickendem Auge und von Stürmen des Lebens durchwettertem Gesicht. „Wer ist Wilhelm Müller?“ fragten die Gelehrten, nachdem sein mehr wissenschaftliches Werk „Russen und Mongolen“, dem eine Fortsetzung wohl zu gönnen gewesen wäre, erschienen war.

Es war in den zwanziger Jahren, als der nachmalige Verfasser von „Bettlers Gabe“, als Schauspieldirector von Riga kommend, die Concession, mit seiner Truppe die Regierungsbezirke Cöslin und Stettin bereisen zu können, in der Tasche, in Cöslin eintraf. Er kam nicht allein. Eine Frau, angeblich seine Gattin, eine überaus liebliche Erscheinung, sowohl auf als außer der Bühne, kam mit ihm, während er in seinem Aeußeren etwas Abschreckendes und nichts weniger als Schönes hatte. Er hatte die Frau in Riga am Sarge ihres Mannes in bitterster Noth mit einem Sohn gefunden und kennen gelernt. Bei einem Sommeraufenthalt in Colberg fand die Frau es für gut, mit einem Artilleriecapitain nach Stralsund durchzugehen, ihrem angeblich bisherigen Mann nur ihre Schulden und ihren Sohn als theures Andenken hinterlassend.

Der Bettler ließ die Frau laufen, bezahlte die Schulden und nahm sich des verlassenen Sohnes an. Später heirathete der Director eine seiner Schauspielerinnen, mit der er, in Cöslin getraut, sehr glücklich lebte. Doch diese Frau starb, wie auch der Sohn, den dieselbe ihm geboren, und der Mann, sich nun ganz seinen schriftstellerischen Arbeiten hingebend, verkaufte seine Bibliothek und Theatergarderobe an Bröckelmann, der die gleiche Concession erwarb, und zog bald darauf nach Berlin, wo er einsam weiter lebte, wenig Umgang pflegend. Nur Wenige lernten ihn in Berlin kennen und wußten von seinem Dasein. Wer war Wilhelm Müller? In Cöslin hieß es, er sei 1790 zu Petersburg geboren und der Sohn eines kaiserlichen Stallmeisters. Den Winterpalast kannte er genau, wie er denn viele düstere Geschichten aus den Kreisen des Hofes und seiner nächsten Umgebung mitzutheilen wußte, wenn er eben zum Reden aufgelegt war.

Sein Rußland, das er schwärmerisch liebte, kannte er genau, nach allen Richtungen hin. Es war, als habe er dasselbe nach allen Himmelsgegenden hin durchzogen. Sagen und Gebräuche des Volks waren ihm wohlbekannt, wie dies auch seine Schriften, so z. B. sein Roman „Jermak und seine Genossen oder die Eroberung Sibiriens“, genugsam beweisen.

Den Schauspieler jedoch verleugnete er in seinen Reden und seinen Bewegungen nimmer. Trat man des Morgens in sein Zimmer, so fand man gemeinhin den Fußboden desselben mit unzähligen Bogen Papier besäet, auf denen seine fingerlange Buchstabenschrift, von der linken oberen Seite des Bogens anfangend und bis zum rechten unteren Ende desselben in schräger Richtung hinabgehend, sich bemerkbar machte. Die Muse hatte ihn, wie er sagte, in der Nacht besucht – und er hatte die Bogen, nach Eingebung derselben, im Finsteren vollgeschrieben. Als die ihrer Zeit berühmte Händel-Schütz,[WS 1] die bekanntlich in Cöslin in ruhiger Zurückgezogenheit lebte, ihn eines Morgens, in nichts weniger als vollständiger Kleidung auf dem Boden liegend, bei seinen Bogen antraf, und ihm die jetzt sichtbare, ovale, silberne Kapsel, die er an einem Bande auf bloßer Brust trug – und die Erde seines Vaterlandes, des heiligen Rußland, enthalten sollte, neckend entwenden wollte – wurde er zornig, wie ihn seine nächste Umgebung nie gesehen – und es bedurfte tagelangen Zuredens, ehe er den Vorfall vergessen konnte und die Frau wiedersehen mochte. So liebte er sein Vaterland.

Auf Kotzebue hielt er große Stücke. Er hatte ihn zu Reval kennen gelernt, wo Kotzebue dem dortigen Theater vorstand – und wo er seinen „armen Poeten“ zum Besten eines dortigen Schauspielers geschrieben, der in der Rolle des armen Kindlein ebenso groß gewesen sein soll, als Ludwig Devrient es nachmals in derselben Rolle war. Er meinte immer, Kotzebue sei besser gewesen als sein Ruf. Im Jahre Achtundvierzig erlitt der Verfasser von „Bettlers Gabe“ mit seinen Ansichten und Meinungen Schiffbruch. Er wurde ein unangenehmer Reactionär, wie denn sein Humor, den er zur Schau trug und zu Tage förderte, etwas Widerliches, Abstoßendes hatte. Die Folge davon war, daß es noch einsamer um ihn als ehedem wurde.

Er siedelte bald darauf nach Charlottenburg über, wo er, unbeachtet und bei Lebzeiten vergessen, gestorben sein soll.

Seiner Schriften sind unzählige. Und wenn auch Literaturgeschichten und sonstige Werke der Art seiner nicht erwähnen und gedenken, so nahm er doch s. Z. eine nicht gänzlich zu ignorirende Stellung in der deutschen Literatur ein.

Wer war Wilhelm Müller? Es giebt der Müller so viel in der deutschen Literatur, daß dieser Name von vornherein schon namenlos macht, wenn nicht ganz besondere Merkmale und Kennzeichen ihn zur Geltung bringen.

Ein mir soeben vorliegender Brief aus Dorpat fragt: „Wer war Wilhelm Müller? Wo wurde er geboren, wo lebte er? Wir hier in Dorpat besitzen auf unserer Universitätsbibliothek nur seine ‚Russen und Mongolen‘, ein Werk, das uns den Verfasser zu achten zwingt. Wir wüßten gern mehr von ihm, besonders in Bezug auf sein Leben in Rußland.“

Aus Cöslin heißt es: „Sein Name Müller war höchst wahrscheinlich ein angenommener, den er sich schon in Riga, wo er als Schauspieler engagirt war, beigelegt hatte.“

Als Schauspieler war er unbedeutend, höchstens in Spitzbubenrollen war er erträglich. Was war er als Schriftsteller, und verdient er es, daß seiner noch gedacht wird?

Wir glauben doch! Und wenn nicht, so mag es um seiner „Russen und Mongolen“ willen hier geschehen sein.

F. Brunold.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Henriette Hendel-Schütz
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_397.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)