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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

und zum Frieden des ganzen Hauses beitrug, wenn Herr d’Avelon in einer Schachpartie der Sieger geblieben war. Dieser ließ seinen Partner erst nach einem Nachttrunk, der jetzt hereingebracht wurde, und nach einer gründlichen Debatte über die beiden Spiele zur Ruhe gelangen … er führte ihn durch das Speisezimmer und dann quer über den Hausflur in ein jenseits desselben liegendes, auf den Hof hinausgehendes kleines Schlafzimmer, wo er ihm mit einem herzlichen Händedruck gute Nacht wünschte. –

Max schloß seine Thür ab, sah nach den inneren Fensterläden, die er wohlverwahrt fand, legte seinen Degen und den leichten Revolver, den er in der Tasche seines Ueberziehers mit sich führte, auf seinen Nachttisch und begab sich zur Ruhe. Daß ihn jedoch der Schlaf floh, war nur natürlich. Mußte ihm doch zu Muthe sein, wie Jemandem, den aus einem Zustand der friedlichsten Seelenruhe heraus eine merkwürdige Fügung plötzlich in einen völlig unerwarteten Conflict, einen wahren Wirbel von seltsamen Thatsachen gerissen; er lag auf seinem guten französischen Bette nicht viel anders, nicht ruhiger und besser, als er auf dem Rücken einer stürmisch bewegten Meereswoge gelegen hatte – wenigstens lag er in einer Fluth hin- und herwogender Gedanken, ohne den Halt von irgend etwas Sicherem und Bestimmtem zu haben, woran er sich wie an einem Anker in dieser Fluth festklammern konnte. Es war Alles ja nur quälende Frage, was ihn umgab und was sein Herz und seinen Verstand bedrängte. Zwar was Gaston de Ribeaupierre ihm gesagt, um ihm seine Ueberzeugung auszureden, daß er hier seinen verschollenen Oheim wieder gefunden, das hatte wenig Eindruck auf ihn gemacht. Gewiß, er hatte darauf eingehen müssen, er mußte es als eine Pflicht betrachten, die Beweise, die Gaston zu haben glaubte, zu prüfen; aber er war sich klar darüber, daß Gaston sich täuschte, daß seine Beweise nicht stichhaltig sein könnten; Max fand sogar etwas von einer „Stimme der Natur“ in dem Gefühl von Sympathie, welches d’Avelon ihm so rasch bewiesen, und in dem tieferen ausschließlicheren und jetzt schon zur Leidenschaft gewordenen Gefühl, das ihn bei dem Anblick der Züge Valentine’s erfaßt hatte, in der ganz eigenthümlichen Sprache, welche diese Züge schon da, als er sie erst im Bilde erblickt, für ihn gehabt hatten. Wie fragend hatten diese schönen Augen ihn angeblickt, wie erwartungsvoll in die Ferne gerichtet, als ob sie von dort her das Nahen eines verhüllten Schicksals, einer überlegenen Macht halb scheu, halb muthig erwarteten, oder als ob sie sagen wollten: ich hüte in mir eine Welt und ein Leben, und wer kommt mit dem Zauberwort, das diese Welt erschließt? – –

Nein, es war unmöglich, daß er sich täuschte; aber desto möglicher war, daß er, als er sich so ganz ohne überlegten Plan und nur den Eingebungen des Moments folgend gehen lassen, weder edel noch klug gehandelt hatte. War es edel, daß er Menschen, die ihn so arglos und herzlich aufgenommen, verheimlicht, wie nahe er ihnen stand? Wäre es nur geschehen, um Herrn d’Avelon zu schonen – dann gewiß; aber war es nicht mehr noch eine häßliche Kriegslist gewesen, um sich nicht für immer von Valentine getrennt zu sehen; und hätte er nicht offener und größer gehandelt, wenn er ganz wahr gewesen und zu d’Avelon gesprochen: „ich erkenne Dich, ich durchschaue Deine Maske, Du bist mein Oheim und ich bin Dein Neffe; doch erschrick nicht, ich komme nicht mit veralteten Ansprüchen oder als Erbe verjährter, längst begrabener Vorwürfe wider Dich!“ Offener, ehrlicher wäre es gewesen, ohne Zweifel; aber wie ein lebendiger Vorwurf, eine stete Demüthigung wäre er dann doch immer für d’Avelon geblieben, er hätte seiner Großmuth einen Charakter beleidigender Ueberlegenheit nicht nehmen können; ein Werben um Valentine hätte etwas Forderndes, Heischendes, Zwingendes angenommen – er hätte nicht mehr daran denken dürfen! und dazu war ja dieser Gaston da mit seinen Ansprüchen auf Valentinens Hand – und ihm gegenüber wollte Max keinen Verzicht aussprechen – gegen ihn wollte er die Waffe seines Rechts schwingen; er glaubte ja – oder überredete er es sich nur? – daß Valentine ein inneres Widerstreben wider diesen Mann empfinde und daß nur äußere Gründe Beide zu einer echt französischen Verbindung bestimmten, von der er Valentine errettet haben würde, sobald er Gaston den Schild seines Rechtes vorhalte, sobald Gaston einsehe, daß er in Valentine keine Erbin finden werde. Und darum hatte er diesem so rückhaltlos Alles aufgedeckt, was er seinen Verwandten verschwiegen – wie der Augenblick ihn bestimmt, ihn hingerissen – vielleicht als ein rechter Thor, der er war, gegen diesen Gaston mit einer großartigen Offenheit zu verfahren, die er, Gott weiß wie, vielleicht mißbrauchen würde; er hatte seine ganze deutsche Ehrlichkeit in die Verhandlung mit diesem Franzosen gelegt, ohne zu bedenken, daß Gaston de Ribeaupierre, wenn er auf die ihm gewordene Enthüllung hin zurücktrat, dies nicht ohne bittere Gefühle und tiefen innern Groll thun würde; davon konnte Max jedenfalls überzeugter sein, als von Gaston’s Ritterlichkeit und Edelmuth, von denen er bisher nicht die geringste Probe hatte; und wie gegründet war also Maxens Sorge, daß Gaston nicht schweigen, daß er d’Avelon durch Verbreitung dessen, was er vernommen, bloßstellen werde! Max fühlte dabei nur geringe Beruhigung in den Vorwürfen, die er dann wieder sich selber darüber machte, daß er ohne Grund die Ehrlichkeit und Discretion eines Anderen in Zweifel ziehe. Er hatte wie ein unbesonnener Spieler, nur um einem Duell zu entgehen, das ihn für immer von der Ferme des Auges verbannt haben würde, sofort Alles auf die Eine Karte, die Verschwiegenheit Gaston’s gesetzt – dazu noch mit einer eigennützigen Berechnung, einem festen Bauen auf die innere Hohlheit französischer Verbindungen und Bewerbungen – und die Sorge, daß er in dem einen wie dem andern einen verhängnißvollen Fehlgriff begangen, daß Gaston, auch wenn Valentine keine Erbin war, an ihr festhalten könne, lag nahe genug, um den Schlaf von seinen Wimpern zu scheuchen.

Aber was geschehen, ließ sich nicht ungeschehen machen; er wußte auch nicht, wie er hätte anders handeln können – sein Verhältniß zu den Bewohnern der Ferme des Auges war nicht so, daß er mit Sicherheit hätte darauf zählen können, die Zeit zu finden, um andere Wege einzuschlagen; ganz gewiß hätte er nicht zu langen diplomatischen Schachzügen Zeit und Muße gefunden. So suchte er die Sorge von sich abzuwerfen und sich den Erinnerungen und Bildern aus seiner Kindheit hinzugeben, die heute so frisch und lebendig in ihm erstanden waren, als er mit Gaston geredet. Die Augen schließend, sah er das schöne, mit hohen Giebeln über einen Kranz von dichten Lindenwipfeln ragende Väterhaus vor sich, mit den breiten Wassergräben umher und den alten verwitterten wappengeschmückten Steinthoren, an denen er als Knabe emporgeklettert war, um oben stolz auf einem der schildhaltenden Löwen zu reiten; er sah den Erker an der Hausecke, durch dessen geöffnetes Fenster er von seinem Hochsitz aus die Mutter an ihrem Nähtisch erblicken konnte, die er dann anrief, damit sie seine Kraftleistung bewundere; er sah seine weißen Tauben um das spitze Dach des Treppenthurmes kreisen und im hellen Sonnenlicht blitzartig die Flügel schlagen – und den Eichwald mit den aufgeschichten Holzklaftern hinter dem Wiesengrund, den schönen Wald, in dem er seine ersten Jagdversuche auf Eichhörnchen und Drosseln gemacht. Das Alles, die ganze Herrlichkeit, die einst als sein sicheres und unantastbares Erbe gegolten, war jetzt dahin; fremde Menschen waren gekommen, um es abzureißen, neu zu bauen, um und um zu kehren; mit dem Besitz war der Stolz und Klang des alten Namens dahin – und das Alles – wie unzählige Male hatte er es dem bösen, ruchlosen, entsetzlichen Onkel schuld geben hören, der dem alten Hause verbrecherisch die Mittel entführt, sich aus dem Ruin zu retten! Wie eine Art Ungeheuer, den anderen grimmigen Märchenungeheuern der erzählenden Tante gleich, wie ein von abergläubiger Scheu umgebenes Wesen, dessen Namen man nicht gern ausspricht, sondern durch Andeutungen ersetzt, war ihm einst dieser Onkel erschienen … nichts hatte ihm ferner gelegen, als der Gedanke an die Möglichkeit, ihn je wieder zu sehen; bei den Antipoden, in noch unentdeckten Ländern jenseits aller Meere sein ruchloses Dasein verbergend, hatten Maxens Knabenträume ihn gesucht – und jetzt, jetzt lag er friedlich unter seinem gastlichen Dach, mit dem Gefühle des herzlichen Wohlwollens für den Mann, dem er völlig verzieh, daß er einmal zur Selbsthülfe gegriffen, um ein altes Unrecht auszugleichen, der dann sich ehrlich sein Haus gegründet, sein Glück auferbaut und die Gewaltsamkeit seines Anfangs durch redliche Arbeit längst gesühnt hatte; er lag friedlich unter seinem Dach, und dies Dach beschirmte den Inbegriff alles Glückes für Max, der, jetzt still die Lider schließend, auch die Reihe seiner Gedanken mit dem schloß, wie wunderbar das Leben mit uns spielt!


(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_386.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)