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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Capitain des Schleppdampfers „Magnolia“, Joseph Gilson, welcher den Kampf aufnimmt, den Flammen in ihrem Marsche seewärts und leuchtthurmwärts ein Ziel setzt und dadurch Tausenden von Menschen zum frohbegrüßten Retter wird.

Aus der Jugendgeschichte Joseph Gilson’s, der im Jahre 1846 zu Chicago selbst geboren wurde, läßt sich eben nicht viel erzählen, wenngleich sie bei aller Einfachheit den Beweis liefern würde, wie Gilson’s Freude an Wagnissen und Lebensgefahren mit jedem Jahre wuchs. Nachdem er Bäckerlehrling, Schiffsjunge, Matrose und Salzbohrer gewesen war, betrat er endlich sein eigentliches Feld, den Schleppdampfer, im Sommer 1864 und zwar in Chicago, dessen Schleppdampfer-Capitäne (es sind ihrer sechszig) durch ihre Geschicklichkeit und Verwegenheit in der ganzen Union bekannt und berühmt sind. Gilson begann auf der untersten Sprosse der Leiter, als „Deckarbeiter“ auf dem Schleppdampfer „Monitor“.

Zwischen den verschiedenen Dampfern bestand damals eine heftige Concurrenz; einer suchte dem andern die sich der Mündung des Hafens nähernden Schiffe wegzufangen und zu dem Ende vor dem andern auf dem See vorbeizufahren. Um die dazu nöthige außerordentliche Schnelligkeit zu erlangen, wurden nicht selten die zur Verhütung von Explosionen sich von selbst öffnenden Sicherheitsventile mit Gewalt geschlossen und auch Gilson erhielt einmal den Befehl, den Schluß zu besorgen, ein Geschäft, welches große Gewandtheit erfordert und mit großer Gefahr verbunden ist. Er wurde dabei drei Mal nach dem Hintertheil des in rasender Eile vorwärtsstürmenden Boots zurückgeschleudert, erreichte jedoch trotzdem seinen Zweck. Kein Wunder, daß ein solcher „Deckarbeiter“ schon 1865 zum Capitän des „Montauk“ befördert wurde. Er ging mit dem nach Cairo (am Einfluß des Ohio in den Mississippi gelegen) verkauften Boote dorthin und fuhr zwischen Cairo und Mound City im Kohlenbootschleppdienst. 1866 finden wir ihn jedoch bereits wieder in Chicago als Befehlshaber der „Ida H. Lee“. Im Spätherbst 1866 kaufte Gilson in Gemeinschaft mit einem Herrn Cruver sich selbst das Schleppboot „Magnolia“ für sechstausend Dollars baar.

Gilson’s Verwegenheit war unter den Seeleuten schon damals genügend bekannt und bewundert; im April 1867 jedoch zog der erst einundzwanzigjährige Capitän die Aufmerksamkeit und das Staunen der ganzen Stadt auf sich, als er mit seiner „Magnolia“ bei heftigem Nordostwinde auf den See hinausfuhr, um ein sonst dem sicheren Untergange zutreibendes Schiff, den Schooner „Navagh“, zu retten und in den Hafen zu bugsiren.

Es war ein stürmischer Sonntag-Morgen im April, als Capitän Gilson, auf die Spitze des Hafendammes hinausgehend, der zur Seite der Hafenmündung sich hinstreckenden Sandbank zutreibend ein Schiff bemerkte, das bereits die Nothflagge ausgesteckt hatte. Bei Nordostwind ist die Einfahrt in den Hafen stets eine schwierige Aufgabe; der Aequinoctialsturm-Charakter, welchen der Wind an dem erwähnten Sonntage angenommen, machte die Einfahrt beinahe unmöglich, und es schien den vor der Mündung nach der Sandbank oder gegen das zwei Meilen lange, dem Ufer parallel laufende Schienendammwerk der Illinois-Central-Bahn geschleuderten Schiffen das Schicksal unvermeidlich, entweder auf der „Barre“ oder gegen die Pfähle des Eisenbahndammes in wenigen Minuten in tausend Stücken zerschlagen zu werden. Kein Capitän wollte sich hinauswagen, jeder Versuch einer Rettung wurde als tollkühn, als unsinnig verdammt. Gilson allein beschloß das anscheinend Unmögliche zu unternehmen. Er hatte aus der Flagge des unglücklichen Schooners erkannt, daß der Befehlshaber ein Schulcamerad aus Oswego war, und für diesen war er bereit das Aeußerste zu wagen. Vergeblich versuchte der Schooner seinen Anker in den sandigen Boden zu werfen. Unaufhaltsam trieb das Schiff der unheilvollen Sanddank zu, auf welcher wie auf einem Amboß der Sturm es in einzelne Bretter zerhämmert haben würde Die Zerhämmerung fing bald darauf wirklich an, gerade als Capitän Gilson mit seiner „Magnolia“ zuerst vor dem Hafen erschien. Es gelang ihm auch wirklich, das Schlepptau des Schooners an Bord zu ziehen; aber die „Magnolia“ war nicht stark genug, um den Schooner von der Bank loszumachen, während sie selbst gegen die Bank hämmernd in Gefahr kam in Stücke zu zerschellen.

Drei Mal wurde wieder hinausgefahren und drei Mal mußte der Rückzug angetreten werden. Endlich gelang es, das tausendfünfhundert Pfund schwere Schlepptau der Bark „Dunderberg“ an das des Schooners zu befestigen, wodurch es der „Magnolia“ möglich gemacht wurde, in tieferem Wasser zu arbeiten und die Kraft größerer Schleppdampfer, die in solcher Entfernung von der Bank ohne sonderliche Gefahr nun arbeiten konnten, zum Losmachen des Schooners zu benutzen. Nachdem Gilson im Ganzen sechs Mal hinausgefahren, triumphirte er endlich und brachte den Schooner in Sicherheit.

Nicht weniger als dreißigtausend Menschen hatten am Ufer, von den flachen Dächern der riesigen Kornspeicher, von den Spitzen der Schiffe im Hafen, dem hin- und herschwankenden Kampfe zwischen dem Dampfer und dem Sturm mit stets steigender Spannung, trotz des rauhen und unangenehm kalten Wetters zugeschaut. Sie sollten unmittelbar darauf Augenzeugen eines noch verwegneren Stückes werden. Gilson war offenbar in Geschmack der Gefahr gekommen, und als er den Schooner „Albany“ in derselben Richtung, wie kurz vorher den „Navagh“, der Sandbank zutreiben sah, besann er sich keinen Augenblick, er ließ das für solche Fälle im Hafen bereite Rettungsboot mit auserlesenen Leuten bemannen, nahm es und sie an Bord der „Magnolia“ und dampfte nach der gefährlichen Stelle in See hinaus. Jedermann gab den Dampfer verloren, indem derselbe, um der Sandbank sich genügend zu nähern, in der heftigsten Weise gegen den Boden des Sees (an der Stelle nur acht bis neun Fuß tief) auf- und niedergestoßen wurde. Das Rettungsboot wurde trotz alledem ausgesetzt, die halb erfroren im Takelwerk des Schooners hängende Mannschaft desselben gerettet und an Bord des Dampfers gebracht. Es war die höchste Zeit gewesen, denn fünf Minuten später war von dem Schooner „Albany“ auch keine Spur mehr zu sehen, Schiff und Ladung waren vollständig verschwunden.

Die Zeitungen veröffentlichten ganze Spalten über diese Doppelthat Gilson’s und sein Ruf als das des kühnsten Capitäns von Chicago war so begründet, daß er namentlich im Frühjahr und Herbst Schwierigkeit fand, Mannschaft zu bekommen; nur eine ganz besondere Classe von Leuten, welche die Gefahr um ihrer selbst willen liebten, ließ sich zuletzt von ihm anwerben. Es gab in der That für Gilson kein Sturmwetter, das ihn abgehalten hätte, auf den See hinauszufahren, und häufig gingen selbst Schiffscapitäne auf den Hafendamm hinaus, um den jungen Wagehals aus dem sicheren Hafen in den finsteren See sich hinauswagen zu sehen, während nicht wenige andere Capitäne den Kopf schüttelten und murmelten: „Er wird zuletzt einmal draußen bleiben und nicht zurückkommen.“

Daß ein solcher Mann bei dem größten Ereigniß, das seine Vaterstadt betroffen, eine bedeutende Rolle spielen würde, ließ sich erwarten; besondere Umstände machten sie zu einer wahrhaft großartigen.

Durch zwei furchtbare Eigenthümlichkeiten zeichnete sich der große Brand von Chicago vor allen andern aus, nämlich durch seine ganze Stadttheile in unnahbare, in vollständig lebensgefährliche Regionen verwandelnde Gluth, und durch eine beispiellos rasche und unregelmäßige Verbreitung, in Folge welcher vielen Tausenden der Weg zur Flucht landeinwärts ganz und gar versperrt wurde und der Rand des Seeufers, ja das Wasser des Sees selbst die einzige Sicherheit vor den von allen Seiten, die Ost- oder Seeseite allein ausgenommen, gegen sie vorrückenden Flammen darbot. Zum besseren Verständniß der weiter unten beschriebenen Scenen sind einige Bemerkungen über die Topographie der Stadt zweckmäßig. Chicago wird durch den Chicago-Fluß und dessen beide Arme, die sich einige tausend Schritt vor der Mündung von dem Hauptfluß abzweigen, in drei Theile getheilt. Der südlich vom Hauptfluß und östlich vom Südarm liegende Stadttheil führt den Namen der Südseite und enthält in seinem nördlichen, dem Hauptfluß nahen Theile das Hauptgeschäftscentrum, alle öffentlichen Gebäude, Theater und Haupthôtels. Nördlich vom Hauptfluß und durch vier Drehbrücken mit der Südseite verbunden, befindet sich die Nordseite, deren Grenze im Westen der Nordarm des Flusses bildet. Im Osten zieht für Nord- und Südseite der Michigansee die Grenze. Der Theil der Stadt, welcher westlich vom Nord- und Südarme des Flusses oder westlich von Süd- und Nordseite sich weit in die Prairie hinauserstreckt, trägt den Namen der Westseite, welche nur einige tausend Häuser von ihren etwa fünfundzwanzigtausend

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_372.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)