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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Nicht einmal die Leiche gab man den Verwandten heraus, sondern verscharrte das Opfer heimlich! – Genug – genug! Die Hand will sich nimmer zum Schreiben solcher Thaten hergeben. Es ist ja das Allerärgste, daß wir noch das Facit der Rechnung hersetzen müssen: Fünf Stunden, von etwa vier bis sechs Uhr Nachmittags und sieben bis zehn Uhr Abends, hatte die Blutarbeit der Soldaten und Gensd’armen gedauert – und in dieser Zeit stieg die Zahl der verwundeten Bürgerlichen auf mehrere Hundert – von den Soldaten und Gensd’armen hatte nicht ein einziger Mann die geringste Verletzung aufzuzeigen – und ebenso wenig ist Einer bestraft worden. Und doch trieben die Regierungsblätter die Schamlosigkeit so weit, von einem Aufstand zu berichten, welcher mit Energie und Glück niedergeschlagen worden sei! –

Das war die reactionäre Jahresfeier des Hambacher Festes. Wir freuen uns jetzt, daß dieser Artikel nicht vor dem vierzigjährigen Jubiläum in die Oeffentlichkeit gekommen ist: die Wahrheit durften wir nicht verschweigen, und doch hätte sie die Feststimmung gestört und verletzt. Jetzt blickt Jeder ruhiger über das Fest hinüber in die grausige Vergangenheit – und Jeder wird sich die Lehre daraus ziehen, die auch den kommenden Tagen frommt.

Vor Allem ward durch unsern großen gemeinsamen Krieg und Sieg das Eine errungen: daß deutscher Patriotismus keine Todsünde mehr ist – wie von 1817 bis 1870! – Aber sind wir wirklich gegen eine Wiederholung solcher Gräuel geschützt? Bewahrt die bisherige Volksschulbildung dagegen? Nein! Der Quell des Uebels ist noch nicht verstopft. Das ist allein möglich durch wahre vaterländische Volksbildung! Und setzt dies einen Kampf gegen alle Feinde solcher Volksbildung voraus, so hat heute die deutsche Nation die gesetzlichen Mittel in der Hand, auch dieses Ziel zu erringen. Darum scheue man nicht den Blick in die Vergangenheit und auf ihre schwärzesten Blätter: sie sind der beste Mahner an die Mannes- und Bürgerpflicht, die ihre Forderungen an jeden Einzelnen um so höher stellen muß, je größer wir selbst vor den Völkern der Erde heute dastehen sollen.




Blätter und Blüthen.


Die fashionablen Kirchen und Prediger New-York’s. Giebt es etwas Seltsameres und für amerikanische Verhältnisse Charakteristischeres, als die sogenannten fashionablen protestantischen Kirchen, wie wir sie in New-York hauptsächlich an der fünften Avenue und in den umliegenden Straßen sehen? Der Löwe und das Lamm werden im tausendjährigen Reiche nicht friedlicher zusammenliegen, als Kirche und Welt in diesen merkwürdigen Etablissements, die schon in ihrer äußeren Ausstattung eine seltsame Verquickung entgegengesetzter Elemente aufweisen. Während man in anderen Ländern gewöhnlich bemüht ist, sowohl in dem Baustyl wie in der inneren Ausschmückung von Kirchen eine gewisse einfache Erhabenheit zum Ausdruck zu bringen und die den Zuhörer umgebenden Eindrücke so zu gestalten sucht, daß dieselben dazu beitragen, die Gemeinde den Alltagsgedanken zu entziehen und auf ein höheres Niveau der Empfänglichkeit für die mahnende Stimme des ewigen Gesetzes zu stellen, geht das Streben des fashionablen Kirchenbaumeisters im Gegentheil dahin, aus der Kirche jeden Gegenstand zu verbannen, der in allzu lebhafter Weise an die Bestimmung des Ortes erinnern könnte. Andererseits sucht er vielmehr jede Bequemlichkeit zu gewähren, welche die Raffinerie des modernen Geschmackes ersonnen hat, so sehr dieselbe auch in Widerspruch mit der Natur des Platzes stehen mag, so daß zum wenigsten in Betreff des Comforts die ihr Boudoir für einige Stunden aufgebende Modedame keinen Unterschied bemerkt. Wohin wir blicken, bemerken wir die geschickte Hand des Polsterers und Kunstschreiners, die im Verein dafür gesorgt haben, eine Ausstattung zu schaffen, an deren gediegener Pracht auch das kritischste Auge nichts aussetzen könnte, wenn sich nicht störend in unseren Enthusiasmus das Bewußtsein einmischte, wie wenig doch diese Brüsseler Teppiche, in welchen unser Fuß fast versinkt, diese modernen Holzschnitzereien mit ihren Amors und Amoretten, diese Kirchenstühle, die sich von Sopha’s nur dadurch unterscheiden, daß sie bequemer sind, wie wenig alle diese Gegenstände dazu beitragen können, einer Kirche den ihr eigenthümlich sein sollenden feierlichen Charakter zu verleihen.

Nach der Orgel sehen wir uns vergeblich um, da dieselbe der neueste Mode gemäß in einer sich dem Auge entziehenden Weise angebracht ist, und eben so wenig ist es uns möglich, ausfindig zu machen, in welcher Weise die Kirche des Abends erleuchtet wird, da die mächtigen Armleuchter und Glaskuppeln, die man früher als Ornamente einer Kirche betrachtete, schon lange verschwunden sind, als ob man sich des Factums, daß überall des Abends Gottesdienst gehalten werde, schäme. Was die Kirchenuhr anbetrifft, so erfreut sich dieselbe allerdings noch einer Existenz der Duldung, wagt jedoch, da sie keineswegs bei unseren nervenschwachen Damen in Gunst steht und wahrscheinlich für ihre Zukunft fürchtet, nur in gedämpften Tönen die Stunde zu verkünden, um nicht allzu mahnend an ihr Dasein zu erinnern. Das Licht, welches durch farbige, mattgeschliffene Gläser fällt, verletzt das Auge nicht, stimmt ausgezeichnet zu der gediegenen Eleganz, auf die wir überall stoßen, und erleichtert es außerdem der Versammlung, weniger interessante Partien des Gottesdienstes zu verschlafen.

Zu sagen, daß der Zweck dieser kostbaren und eleganten Einrichtungen sei, arme Leute zurückzuschrecken, würde Verleumdung sein. Im Gegentheil werden Personen, deren Anzug und Benehmen verräth, daß sie weniger lohnenden Beschäftigungen obliegen als die Mehrzahl der Versammelten, ebenso höflich mit Sitzen versehen wie diejenigen, welche in Equipagen angefahren kommen, ja die Gegenwart derartiger Besucher wird gelegentlich geradezu systematisch gesucht. Nichtsdestoweniger fühlen sich die Mittellosen zurückgestoßen, da sie wissen, daß sie nicht im Stande sind, ihren Antheil zur Aufrechterhaltung derartiger Institute beizutragen, und nicht wünschen, auf Kosten Anderer an denselben theilzunehmen. Alles in der Kirche und in der nächsten Umgebung derselben scheint darauf hinzuweisen, daß wir es mit einem exclusiven kirchlichen Club zu thun haben, der nur für Leute mit zehntausend Dollars jährlich und aufwärts geschaffen ist.

Es ist Sonntag Morgen und die Thüren dieses schönen Salons sind geöffnet. Mit versteckter Pracht gekleidete Damen, untermischt mit solchen, die es nicht über sich haben gewinnen können, ihre auffallenderen Toilettegegenstände zu Hause zu lassen, gleiten an uns vorüber. Schwarze Seide, schwarzer Sammet, schwarze Spitzen, deren Einförmigkeit hier und da durch Anklänge an hellere Farben und durch das Blitzen halb verborgener Diamanten unterbrochen wird, bilden die gewöhnliche Garderobe. Schwarz uniformirte Herren kündigen ihre Ankunft durch das Knarren ihrer Stiefel an. Die Gesellschaft ist gewöhnlich nicht sehr zahlreich, ist jedoch ebenmäßig über die gesammte Kirche vertheilt und läßt so das Gefühl der Leere nicht aufkommen. Gleich wie in einer Handelsstadt jedes Ding vom commerciellen Standpunkte aus beurtheilt wird, rangirt auch eine numerisch schwache, aber financiell starke Kirche nicht nach der Zahl der Seelen, sondern nach der Zahl der Dollars.

Die Gemeinde ist versammelt. Die leisen Klänge der Orgel sind verrauscht. Eine weibliche Stimme schwingt sich melodiös in die Lüfte und übertönt das Knattern der Seidenstoffe und das Flüstern ihrer Trägerinnen. So süß und mächtig ist dieselbe, daß ein Fremder fast glauben könnte, sie gehöre einem himmlischen Chore an; die Einwohner der Stadt jedoch erkennen sogleich eine ihrer beliebtesten Primadonnen, die sie oft in Concerten und Theatern gehört haben, und lauschen kritisch den zauberhaften Tönen. Gut ist es, daß der hoch künstlerische Gesang uns verhindert, den Worten eine allzustrenge Aufmerksamkeit zu schenken, da andernfalls die mangelnde Harmonie zwischen dem einfachen Texte und der verzierten italienischen Musik uns störend auffallen müßte. Die Vorstellung ist jedoch in ihrer Art so ausgezeichnet, daß wir an derartige Nebensachen nicht denken. Sobald die Dame ihre Stanze beendigt hat, nimmt ein nobler Bariton, den wir ebenfalls als professionell erkennen, die Melodie auf und giebt uns ein Solo zum Besten und so fort. Es ist klar, daß die ersten Talente, welche für Geld zu haben sind, zur Unterhaltung der Versammlung engagirt wurden, und wir sind deshalb durchaus nicht erstaunt, wenn man uns mittheilt, daß die Musik jeden Sonntag zwei- bis dreihundert Dollars kostet.

Ueberraschend und der Beachtung werth ist das Factum, daß diese schöne Musik nicht zieht; ja fast möchten wir sagen, daß, je kostbarer die Musik, desto spärlicher der durchschnittliche Besuch ist. Der Nachmittagsgottesdienst zum Beispiel in der Trinity-Kirche, jener fashionabelsten der fashionablen Kirchen, ist wenig mehr, als ein hübsches Freiconcert, dem selten zweihundert Personen beiwohnen, und dies trotz des Umstandes, daß die Predigt nie die fashionable Länge, nämlich zwanzig Minuten, überschreitet.

Ist dieses feine Präludium beendigt, so beginnt der Prediger, und wenn der Letztere nicht ein Mann von außergewöhnlichem Auftreten und hervorragenden Gaben ist, fühlt sich Jeder unwillkürlich durch den Contrast herabgestimmt. Die Stimme ist gewöhnlich, die Worte sind hausbacken oder sogar gemein. Keiner, der nicht Jahre lang an den Platz gewöhnt ist, kann sich dem Gefühl entziehen, daß die Sprache, welche er hört, nicht zu der Scene um ihn herum paßt. Wohin unser Auge blickt, fällt es auf moderne Gegenstände, mit denen sich unwillkürlich moderne Anschauungen verknüpfen; die Worte aber, welche wir hören, gehören einer vergangenen Zeit an und sind oft der Gegenwart kaum verständlich. Der Prediger spricht von demüthigen Gläubigen, und wir schauen uns um und fragen: „Sind diese kostbar und elegant gekleideten Personen demüthige Gläubige?“ Der Prediger sagt: „Kommt, laßt uns uns vereinigen in süßem Gesang,“ und alsobald führen vier gemiethete Sänger ein Stück schwerer Musik aus, während die Versammlung, die Augen schließend, passiv dabei sitzt. Der Prediger ereifert sich ob des Jagens und Haschens nach weltlichen Glücksgütern, und zu gleicher Zeit weist der Küster einem soeben angekommenen Herrn, in welchem wir nicht nur ein Mitglied des Kirchenvorstandes, sondern auch einen der bekanntesten und gewissenlosesten Börsenspieler erkennen, seinen Platz an.

Manchmal nehmen die Ungereimtheiten, in denen sich viele dieser fashionablen Prediger ergehen, den Charakter des Lächerlichen an. So hörte z. B. ein Freund von uns einen im Uebrigen nicht unbefähigten und jedenfalls wohlmeinenden Geistlichen nahe der fünften Avenue die weiblichen Mitglieder seiner Gemeinde fragen, ob sie gewohnt wären, mit ihren Dienerinnen und namentlich mit denjenigen, welchen das Frisiren der Haare obläge, über das Heil ihrer Seelen zu reden. Er erwähne speciell die Friseusen, weil, wie er richtig bemerkte, die Damen sich mit diesen Künstlerinnen während des Haarkräuselns über verschiedene Gegenstände zu unterhalten pflegten, und daher die Gelegenheit höchst günstig wäre, hin und wieder ein Wert über diesen weitaus wichtigsten Gegenstand einfließen zu lassen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 365. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_365.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)