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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Platz, in welchem die Freude nicht mehr auf den mitgeschleppten Proviantkorb und die Aussicht beschränkt war, sondern wo sie sich sorgenlos gleich für ganze Tage häuslich niederlassen konnte. Den ausgiebigsten Gebrauch hiervon wußten aber nur die Studenten zu machen und vom Philisterium diejenigen, welche hier selber einmal die bunten Mützen auf den frischen Locken getragen.

Und so ist’s auch heute! Hört Ihr die Grüße des Thals? Das Jubeln und Singen? Das sind die so sehnlich Erwarteten. War das ein Aufruhr im Burghof! Die Jenenser verließen ihre langen Tafeln, den Genossen entgegenzueilen, aber auch die Gruppen der Cylinder und Schleierhütchen rauschten auf, wie scheue Tauben flatterten die weißen und bunten Kleider in den Schutz der dunklen Tuchröcke, um Raum zu machen und ungesehen zu sehen bis zur Gelegenheit, selbst gesehen zu werden. Unter den Männern und alten Herren traten aber schon jetzt Manche ganz anders auf: man sah’s, sie fühlten sich auf berechtigtem Boden. Und da braust und prasselt es herein, in fesselloser Jugendlust, kräftige Arme umschlingen, blühende Lippen küssen sich, hier der erste Flaum am Kinn, dort der Vollbart, wie’s die Natur eben hergiebt, Schnurröcke und Kanonen, klirrende Sporen und bunte Mützen, Ziegenhainer und Tabakspfeifen im just herrschenden akademischen Baustil der Drechslerkunst, den Tabaksbeutel am Knopfloch, Viele das Ränzel auf dem Rücken, wie’s damals Sitte war, wo der Dampfwagen noch nicht das Thal da unten durchschlängelte und Bruder Studio seine Auszüge noch stolz zu Fuß, oder in der „Spritze“, auf Leiterwagen und hoch zu Roß vollbrachte.

Aber nun: „Samiel, hilf!“ – Der Machtspruch des Bedürfnisses bringt den wildesten Schwarm zur Ordnung, und zur Befriedigung desselben stand dem „Samiel“ die „alte Hanne“ mit ihren Schinkenbrödchen und Sooleiern redlich bei. So ging der Mittag vorüber, der Wandelgang der Gruppen und Grüppchen durch die Ruine, die Siesta der Wegemüden im Schatten der Mauern und der Bäume war genossen, die langen Tafeln füllten sich mehr und mehr mit den erfrischten Zechern und die Kurbelchen geriethen in häufigere Bewegung. Inzwischen hatte das Philisterpublicum mannigfach gewechselt durch Ab- und Zugang; nur jene Gäste, die wie auf berechtigtem Boden auftraten und deren Gruppe im Laufe des Nachmittags noch ansehnlich zunahm, hielten Stand, und daß sie dies mit Fug thaten, kündigte sich gleich beim ersten Liede an. Mächtig erscholl’s von wohl anderthalb hundert Studentenstimmen:

„Sind wir vereint zur guten Stunde.“

Da ward der ganze Burghof still; aber in den Augen jener Männer ging ein Jugendfeuer auf. Die Alten nickten erst mit dem Kopfe den Tact, beim zweiten Verse brummten sie mit, beim dritten sangen sie sammt den jüngeren Männern ganz tapfer, beim viertem erhob sich einer um den andern vom Sitze und trat zu den Studententafeln, und schließlich standen sie alle dort, jeder sein Kurbelchen in der Faust, und stießen am Ende zum „Fiducit“ an. Nun brach die Schranke, sie gaben sich zu erkennen als unsere Vorvordern im akademischen Reiche, als unsere „alten Herren“, und nun ging erst ein Grüßen los! Rasch war Platz für alle an unseren Tischen geschafft, und wahrlich, sie alle ließen Frauen und Kinder sitzen, um wieder Studenten zu sein!

Aber auch an diese anscheinlich jetzt so Verlassenen kam noch die Reihe. Zu verwundern war’s nicht, daß die langen schönen Hälse, auf welchen die Köpfe und Köpfchen mit den Schleier- und Federhüten saßen, sich immer eifriger zu uns hinwendeten. Manche Frauen hatten ihre „Alten“ noch ihr Lebtage nicht theils so munter gesehen, theils solcher Sing- oder Trinklust oder gar solcher Zärtlichkeit fähig gehalten. Sie waren ja rein wie ausgewechselt! So der ehrwürdige Pfarrherr dort, der daheim sogar beim Zanken die Stimme möglichst mäßigte, schlug jetzt mit der Faust auf den Tisch und rief, daß man’s im ganzen Hofe hörte: „Fuchs, Du mußt Hansen heißen, sonst lügt Dein Gesicht!“ Und es war richtig der Sohn seines akademischen Herzbruders vor dreißig Jahren. Und dort der graue Advocat, der das ganze Jahr über nur murrte und knurrte, dort singt er seine alten Leiblieder eins nach dem andern her und ein lustiger Chor stimmt mit ein, und er läßt nur eine Pause eintreten, weil der leutscheue Professor V., sein Nachbar, den er mit Mühe und Noth aus seiner stillen Gymnasialwohnung herausgerissen und mitgezwungen, auf einer Bank steht, um eine „unpassende Rede“ zu wiederholen, die er einst als „Burgpfaffe“ gethan, – und gar der Medicinalrath, ewig kühl bis an das Herz hinan, dort umhalst und küßt er einen Studenten, weil dieser auf derselben Stube wohnt, die er vor vierundsechszig Semestern inne gehabt, und weil darin noch Vieles erhalten ist, wie er es kannte, und vor Allem der Stiefelknecht mit seinem eingeschnittenen Namen. So erging es noch Dutzenden, und Alles war so natürlich. Die Jugenderinnerungen kamen wie ein Sturm über die alten Herren, und die Begeisterung für ihre Studentenzeit stand ihnen so schön! Aber den Frauen schien sie nicht durchweg zu gefallen.

Daher geschah ein Geflüster in die Ohren der entwichenen Familienhäupter, und wie auf Commando erhoben sie sich, je ein Paar Studenten an den Armen, und schritten so auf die Ihrigen los. Alle Nichtgeführten gingen von selbst mit, und so begann eine Vorstellung in größerem Stile. Die massenhafte Umhuldigung überraschte glücklich Frauen und Jungfrauen und that ganz besonders den Müttern sichtlich wohl. An dieselbe knüpfte sich ein gemeinsamer Spaziergang durch und um die Ruinen, der einer großen Polonaise glich und bei welchem durch kluge Neckereien von Seiten unserer heutigen Burgfräulein über die so fürchterlich bespornten Kanonenträger zu Fuß eine neue Ueberraschung verursacht wurde. Von den Sporenklirrern war etwa ein Dutzend plötzlich verschwunden.

Es mochte ein Stündchen liebenswürdigster Lust so vergangen sein. Vergeblich hatten wir die Damen zu bereden gesucht, unsere Tische ebenfalls mit ihrer Gegenwart zu schmücken. Die Mütter widersetzten sich diesem Ansinnen. Da plötzlich – horch! Trompetengeschmetter von Kreipitzsch her! Alles wollte den Thoren zueilen. Aber siehe, da sprengten schon zwei Reiter herein, welche sich als Herolde zu erkennen gaben, denn sie trugen auf Brust und Rücken je zwei um den Hals festgebundene blaue Küchenschürzen, auf welche mit Kreide die nöthigen Wappen gemalt waren! Sie verkündeten „ein feierlich Turnier zu Ehren der hochedeln Burgfrauen und Burgfräulein“ und geboten „die Schranken frei zu machen von der Fahrniß gemeiner Wirthschaft“, zu Deutsch: Tischen und Stühlen in des Burghofs Mitte. Das geschah, die Damen erhielte ihren Platz auf dem hohen Schutt- und Trümmerwerke vor dem Ritterhause, die akademischen Männer und Jünglinge machten amphitheatralische Aufstellung auf Boden, Bänken und Tischen im Halbkreise. Das übrige „Volk“ brachte sich, wie allezeit, unter, wo Platz war.

Sie hatten Unglaubliches möglich gemacht in so kurzer Frist, diese Ritter! Als Turnierrosse traten die in Kreipitzsch eingestellten Reit- und Wagenpferde der Jenenser auf. Als Turnierritter konnten freilich nur sechs ausgerüstet werden, weil man nicht mehr Brustharnische zusammenfand, während an Helmen und Lanzen Ueberfluß war, so daß auch die Knappen damit bedacht werden konnten. Sogar einen gewesenen Postillon besaß das Rittergut als Pferdeknecht, der, auf einem Ackergaul reitend, ein altes Posthorn als Turniertrompete blies, äußerlich angethan gleich den Herolden.

Der Zug kommt. Die Herolde fassen zu beiden Seiten des Thors Posto. Es ist nicht zu beschreiben, welches Erstaunen, welch ungemessenen Jubel der feierliche Aufzug gewährte. Die Brustharnische der Turnierritter bestanden allerdings aus großen Thonschüsseln, die mit Stricken und Bindfaden auf der Brust festgebunden waren. Aber wo sollten denn in der Eile andere herkommen? Und entsprachen diese nicht vollkommen ihrem Zweck zerstoßen zu werden? Die Helme waren den Harnischen materialverwandte Kochtöpfe, wie sie auf dem Heerd stehen. Auch sie wurden auf die Köpfe festgebunden, Visire konnten jedoch nur für drei Ritter beschafft werden, weil’s für die anderen an Pappe und Bindfaden gebrach; dagegen zeichnete die Helme derselben ein Flederwisch aus, welcher daran festgebunden war und die wallenden Federn vorstellte. Die Turnierlanzen hatten bis dato als Hopfenstangen gedient.

Es war schön anzusehen, wie der Zug um die Schranken ritt und die Ritter vor den Burgdamen mit Würde die Hopfenstangen neigten. Dann schieden die Knappen bei Seite und die Ritter begannen, immer nur zwei gegeneinander, den Kampf. Die Besorgniß, sie könnten sich die Augen ausstechen, ward mit der stolzen Bemerkung abgethan: „Sie Alle sind tüchtige Stoßfechter und sitzen fest zu Pferde.“ Der Zweck des Kampfes war nicht, sich aus den Sätteln zu heben, sondern den Harnisch zu

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