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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Interesse erregt und eine Zuhörerschaft angezogen, wie dies in der neueren Geschichte der Senatsverhandlungen beinahe ohne Beispiel ist. Der Schwarm von Diplomaten, von Mitgliedern des anderen Hauses, von hohen Beamten und Würdeträgern, – die Damen nicht zu vergessen – welche die Galerien und die Halle des Senates während dieser meisterhaften Rede füllten, waren meist sowohl durch das Interesse an dem Gegenstande, als durch den Ruf herbeigezogen, den sich Karl Schurz als einer der tiefsten Denker, der kühnsten und vollendetsten Redner, dessen Stimme je in diesem Saale ertönte, erworben hat.“

Der Washingtoner Correspondent eines anderen Blattes beschreibt in anschaulichster Weise die Aufregung, die vor und während der Philippika im Saale geherrscht. Da sehen wir Kopf an Kopf in den Galerien gedrängt; wir sehen, wie der Saal sich füllt, bis auch der letzte freie Raum besetzt ist. Der Vicepräsident verläßt seinen Sessel und nimmt in der unmittelbarsten Nähe des Redners Platz; der Präsident sendet seinen Privatsecretär, den General Porter, um sofort den Inhalt der Rede und den von ihr gemachten Eindruck zu erfahren; die Gegner, welche heute ihre Antwort erhalten sollen, sind von nervöser Unruhe gepeinigt; und unterdessen sitzt der Held des Tages, ruhig in seinen Sessel zurückgelehnt, und wartet der Eröffnung der Sitzung. Es ist dasselbe Gesicht mit den markirten Zügen, mit den braunen, dunklen Augen, es ist dasselbe dunkelblonde Haar, welches uns Moritz Wiggers in der „Gartenlaube“ geschildert hat, und welches jetzt ein amerikanischer Berichterstatter zeichnet. Da sitzt er in einfachem blauen Rock und grauer Hose, eine schmale schwarze Halsbinde um den umgelegten Kragen geschlungen; doch jetzt erhebt er sich – der Vorsitzende hat dem Senator von Missouri das Wort gegeben und in tiefster Stille lauscht Jedermann den Körper vorgebeugt, dem klaren, eindringenden, scharf logisch geordneten Vortrag, der oft – eine seltene Erscheinung in den ehrwürdigen Hallen des Senates – von Beifallsbezeigungen unterbrochen wird.

„Beim Himmel!“ flüstert ein Zuhörer dem Correspondenten in das Ohr, „ist dies nicht das Ideal eines echten Mannes, der auf dem Wege zur Erreichung des höchsten Ruhms wandelt? Und wie sie ihn hassen, die Corrupten, und wie das Volk an ihm hängt! Und doch hat er auch nicht die Spur von einem Demagogen an sich!“

Nein! wenn er nur ein Demagoge wäre, würde er gewiß die Deutschen nicht täuschen. Bei diesen liegt seine Stärke nicht in seiner Beredsamkeit, sondern in seinem ehrlichen Charakter. Der feste Charakter und die männliche Entschlossenheit, welche Moritz Wiggers am Morgen des 8. November 1850 aus diesen Gesichtszügen herausgelesen, haben sich bewährt und ihn auch jetzt wieder auf die Seite des Rechtes gestellt. Möglich, daß ihm in der Zukunft der Dornenkranz des Märtyrerthums winkt. Karl Schurz weiß dies; denn er weiß, daß Republiken undankbar sind.[1]

Americus.


  1. Pierce, der Washingtoner Correspondent der „New-Orleans-Times“, bringt eine enthusiastische Darstellung der obenerwähnten großen Rede von Karl Schurz und schließt mit folgendem Bericht über das Weib des großen Redners und Staatsmannes. Er sagt: „Ich war zufällig Zeuge einer kleinen Scene häuslichen Glücks, welche für mich äußerst rührend war. Frau Schurz, die Frau des Senators, ist eine der schönsten und gebildetsten Frauen von Washington. Ihre Erfahrungen im gesellschaftlichen Leben haben ihr liebliches deutsches Wesen, welches so zart und natürlich ist wie das eines Kindes, in keiner Weise beeinträchtigt. – Sie hatte, wie ich später erfuhr, den Angriff des Senator Conkling gegen ihren Mann gelesen, und nach Frauenart hielt sie denselben für sehr gefährlich und ganz unwiderlegbar. Am Dienstag, als der Senator Schurz seine Entgegnungsrede hielt, befand sie sich in der höchsten Aufregung und eilte endlich, unfähig sich noch länger zu beherrschen um drei Uhr nach dem Capitol. Sie glaubte, um diese Zeit würde er zu Ende und alles Gute oder Schlimme nun vorüber sein. Am ersten Eingange traf sie den Thürsteher, horchend den Kopf nach der Seite gewandt. Sie frug nach ihrem Gatten. ‚O Madame,‘ rief der Mann, ‚er hält eine so herrliche Rede! Kommen Sie herein, die Damen sind alle im Saal.‘ Sie zögerte; ein Page eilte hinein und rief den Senator Sumner heraus. ‚Bitte, treten Sie ein,‘ bat der Massachusetts-Redner, ‚und hören Sie Ihren Gemahl in dem größten Erfolg, den jemals menschliche Lippen hervorgebracht.‘ Der Einladung Folge leistend, ließ sie sich durch die Menge nach einem Winkel geleiten, wo sie ihr Gesicht in den Händen barg und der theuren Stimme lauschte – ihrer Vertheidigung und ihrem ernsten Aufrufe an das amerikanische Volk zur Gerechtigkeit gegen uns selbst und zur Reinhaltung unserer Institutionen, während das unermeßliche Auditorium durch tiefe Stille oder stürmischen Beifall antwortete. Als die Stimme schwieg und sie endlich aufblickte, waren ihre Augen feucht von Thränen. Nach Frauenart hatte sie ihr Herz durch Weinen erleichtert.“




Eine vergessene Schulfrage.


Von D. H. Engel.


Seit Ende des vorigen Jahrhunderts haben Aerzte und Erzieher die schädlichen Einflüsse der Schule auf die Gesundheit der Schüler vielfach warnend hervorgehoben. – Heute ist die Angelegenheit bereits so weit, daß die höchsten Schulbehörden bemüht sind, aus dem bisher aufgesammelten Material die Grundzüge für die Gesundheitspflege der Schuljugend festzustellen.

In den veröffentlichten Berichten darüber ist auf alle Schuldisciplinen und die dazu erforderlichen Räumlichkeiten und Einrichtungen Bezug genommen, mit alleiniger Ausnahme des Gesangunterrichts, der ganz unerwähnt blieb. Ob z. B. auf höheren Schulen ein Musiksaal nöthig, wo derselbe gelegen und wie er einzurichten sei, darüber fand ich nichts.

Professor Virchow in Berlin hat in einer bei Reimer daselbst erschienenen Schrift die bisherigen ärztlichen Erfahrungen über die der Gesundheit schädlichen Einflüsse der Schule auf die Jugend vom wissenschaftlichen Standpunkte aus dargestellt und zusammengefaßt. – Hiernach ist beispielsweise die Zunahme der Kurzsichtigkeit auf höheren Schulen ganz enorm. Sie beträgt nach statistischen Ermittelungen für die Sexta zwölf Procent, zeigt mit den höheren Classenzielen ein regelmäßiges Aufsteigen und erreicht in Prima die Höhe von fünfundfünfzig Procent.

Hätte Herr Dr. Virchow in den Schriften, die ihm das Material zur Beurtheilung des heutigen Standes der Angelegenheit lieferten, nur eine Bemerkung darüber gefunden, daß durch widernatürliche Behandlung des Schulgesanges nicht nur vielfach Heiserkeit und Stumpfheit des Stimmorgans für die ganze fernere menschliche Lebensdauer herbeigeführt, sondern auch der Keim zu hartnäckigen Kehlkopfs- und Brustleiden, die oft zum Tode führten, gelegt wurde, so würde er gewiß nicht unterlassen haben, bei den am Schlusse der Schrift angeführten Schädlichkeiten und Krankheitsursachen auch den untüchtigen Schulgesang anzuführen. Das Wort Gesang kommt aber auch hier nicht einmal vor.

Den Behörden blieben schädliche Einflüsse in dieser Beziehung wohl nicht völlig unbekannt. Sie vermochten aber aus obigem Grunde dem Uebel nicht beizukommen. Man erließ wohl Rescripte wegen Schonung mutirender Stimmen, dieselben verbreiteten aber über das Wesen der Mutation selbst, das namentlich bei Knaben und Jünglingen sehr complicirter Natur ist, nicht die geringste Klarheit. Wie sehr dieselbe gerade hier nöthig gewesen wäre, geht daraus hervor, daß der Schulgesangunterricht im Allgemeinen, und selbst in höheren Schulen, die einen Fachlehrer für diese Disciplin zu berufen pflegen, doch in den meisten Fällen noch von Musikdilettanten ertheilt wird, von denen man nicht voraussetzen kann, daß sie mit der specifisch musikalischen Behandlung der Stimme überhaupt vertraut sind, noch viel weniger aber, daß sie die mit der Entwickelung des Körpers sich vollziehenden mannigfachen Stimmwandelungen bei Knaben und Jünglingen richtig erkennen, und für jede Entwickelungsperiode die zur Abwehr schädlicher Einflüsse nöthige Behandlungsweise rechtzeitig ergreifen sollen.

Ueber den pädagogischen Nutzen eines guten Schulgesanges will ich hier nicht weiter reden. Dagegen gehört es zu meiner Aufgabe, zunächst zu betonen, daß der Schulgesang nur dann einen Nutzen gewährt, wenn er mit der wissenschaftlichen Aufgabe einer Schule auf gleicher Höhe steht, oder deutlicher ausgedrückt, daß es ebenso unzweckmäßig ist, wenn in Bürgerschulen das Gebiet des volksthümlichen Gesanges überschritten und mit Knaben- oder Mädchenstimmen künstliche Figuralmusik betrieben wird, als es beklagenswerth ist, wenn höhere Schulen, deren Aufgabe der gemischte classische Chorgesang ist, sich kaum auf die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_263.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)