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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Der Morgen brach heran, der Sturm hatte etwas nachgelassen, als auch schon die Rettungsmannschaft wieder versammelt war, um von Neuem ihr Rettungswerk zu beginnen, denn noch sah man die Unglücklichen im Maste hängen. Am Strande selbst war das abgerissene Rettungsboot des gestrandeten Schiffes wie mannigfache andere Schiffstheile angetrieben worden, darunter auch ein Bund Schiffspapiere, aus denen ersichtlich wurde, daß das gestrandete Schiff „Gretjelina“ benannt war und einem ostfriesischen Rheder gehörte, der das Schiff selbst führte.

Im Schlepptau des Lootsenschiffes fuhr das Rettungsboot mit dem sehnlichsten Wunsche ab, daß es die Unglücklichen nunmehr befreien würde. Nach vier Stunden kehrte es aber mit der erschütternden Nachricht zurück, daß, als es kaum eine Viertelstunde vom gestrandeten Schiff entfernt gewesen, der letzte Mann von einer hohen Welle herabgespült worden sei und gleich den Anderen sein Grab auf dem tiefen Meeresgrunde gefunden habe.

Die dunklen Wolken hatten sich gelichtet, einzelne Sonnenstrahlen beleuchteten die grünen Meereswellen, aber an dem sonst so belebten Strande war es still und öde geworden, aus dem Meere ragten die nackten Masten des verlassenen Schiffes, und das Unglück der untergegangenen Mannschaft betrauernd, war Alles in seine Wohnung zurückgekehrt, nur die Schwärme wilder Enten und Gänse zogen, von den schreienden Möven unterbrochen, am Strande auf und nieder.

Auf den bang verlebten Tag sollte aber eine noch schauervollere Nacht folgen.

Gegen Mitternacht weckte ein furchtbarer Nordweststurm alle Bewohner der Insel, der Sturmwind tobte heulend um die kleinen Häuser, das Herabstürzen vieler Schlöte erfüllte Alles mit Besorgniß, und öfters war es, als ob der Boden der Häuser erzitterte; dazwischen hallten hohl und dumpf die Schläge der hochbrandenden Meereswogen, und von trüber Ahnung erfüllt, sah Jedes dem grauenden Morgen entgegen.

Welch ein Bild bot sich hier dem Beschauer dar! Von dem breiten schönen Strande war nichts zu entdecken. Die hohen Meereswellen schlugen brandend an den Dünen empor, daß der weiße Meeresschaum wie Schneeflocken darüber jagte. Die aufgestellten schweren Badekarren lagen zertrümmert an der Dünenwand, und die von den Dünen nach dem Strande festgerammte lange Brücke war in die Höhe gehoben und zerrissen. Auf dem Meere selbst sah man verschiedene Schiffe in den wilden Wogen kämpfen; besonders war Aller Aufmerksamkeit auf einen großen Dreimaster, ein sogenanntes Vollschiff, gerichtet, das mehr und mehr dem Riffe zugetrieben wurde. Schon glaubte man ein Stillstehen des Schiffes und somit ein Festsitzen auf dem Riffe wahrzunehmen, als am Horizonte die dunklen Rauchwolken eines Dampfschiffes sichtbar wurden, welches die Gefahr des Dreimasters bemerkte, ihn in sein Schlepptau nahm und aus drohendem Untergange rettete.

Da hörte man wieder den Ruf: „Seht dort die Brigg! Die Segel sind zerrissen, sie treibt unaufhaltsam nach dem Riffe! Seht, seht, sie sitzt bereits fest, die Mannschaft hat sich in die Masten gerettet!“

In gleicher Linie mit dem vor zwei Tagen gestrandeten Schiffe blickte Hülfe flehend von den schaurig schwarzen Masten, an denen der dunkle Fetzen eines zerrissenen Segels vom Sturme gepeitscht wurde, die Bemannung nach dem Rettung bietenden Strande. Aber heute, wenn auch die See wild aufgeregt war, galt bei der Rettungsmannschaft kein langes Besinnen. Rasch wurde das Rettungsboot aus dem Stationshause gezogen, und ebenso rasch lag es in den stürmenden Wellen, dem freudigen und ebenso bangen Blicke der am Strande Stehenden entzogen.

Das Lootsenschiff hatte schon früher die Gefahr der Brigg bemerkt und war auf sie zugesteuert. Bald hatte es deren gefahrvollen Platz erreicht, das Schiff vollständig umfahren und wendete nach dem Rettungsboote.

Zu gleicher Zeit wurde die Nothflagge sichtbar, als Zeichen, daß Hülfe dringend nöthig, und so kehrte das Lootsenschiff, das Rettungsboot im Schlepptau, nach dem gestrandeten Schiffe zurück, und beide legten in nächster Nähe an. Nach Verlauf einer Stunde sah man beide Boote sich wieder vom Schiffe entfernen, zwischen den hohen Wogen verschwinden, und mit beklommenem Herzen wurde ihrem Kommen entgegengesehen, in der Hoffnung, daß noch zeitig die Rettungsmannschaft zur guten Hülfe eingetroffen.

Die Dämmerung brach bereits herein, da sah man nicht mehr weit vom Strande, von Welle zu Welle getragen, das Rettungsboot sich Bahn durch die schäumende See erkämpfen, und im Boote flatterte zu Aller Freude die Rettungsflagge, ein rothes Kreuz in weißem Felde mit schwarzem Rande, zum Zeichen, daß die Rettung gelungen. Von Mund zu Mund verbreitete sich längs des Strandes die frohe Kunde: „Die Mannschaft ist gerettet!“ Und die Taschentücher an Stöcken und über den Köpfen schwenkend, eilte Alles dem rasch sich nähernden Boote entgegen, um, nicht achtend einiger tückischen Wellen, welche den zu kühn Vordringenden noch über die Füße flutheten, die Ersten beim Willkommsgruß zu sein.

Von einer leichten Welle getragen, mit einem kräftigen Ruderschlage unterstützt, fährt das ersehnte Boot mit seinen Geretteten auf dem Strande auf. Rasch springt die Rettungsmannschaft aus dem Boote, Jeder einen Geretteten auf dem Rücken, und fünf Mann werden auf dem Strande niedergesetzt. Von allen Seiten werden die Geretteten umdrängt und mit Fragen bestürmt; aber vor Erschöpfung und Kälte an allen Gliedern zitternd, vermögen die nur englisch sprechenden Matrosen wenig zu antworten, und erst im Gasthause angekommen, mit trockenen Kleidern umhüllt, nach einer wärmendem Suppe und kräftigem Beefsteak, ihre thönernen Pfeifen anzündend und schmauchend, erzählten sie ihre Erlebnisse:

„Unser Schiff, die ‚Asia‘ war mit zweihundertachtzig Lasten Kohlen für die holländische Insel Texel beladen und hatte mit unserm Capitain eine Bemannung von neun Mann.

Am 22. September fuhren wir von der englischen Küste ab. Ein heftiger Sturm zerriß unsere Segel, trieb uns von unserm Course ab, und nachdem am zweiten Tage unser Schiff ein Leck bekommen, so daß wir stets an den Pumpen stehen mußten, sahen wir uns mit dem grauenden Morgen dem Borkumer Riff zugetrieben.

So erschreckend jedem Schiffe diese Wahrnehmung sein muß, so klammerten wir uns dennoch an die Hoffnung, daß unser Schiff noch so lange sich auf dem Riff halten würde, bis unsere Gefahr bemerkt und wir gerettet werden könnten; mit dieser Hoffnung setzten wir unsere Pumpversuche fort. Jetzt erkannten wir an der scharfen Brandung, daß wir in nächster Nähe des Riffs waren. Alle drängten sich nach dem hintern Mast zur Rettung, das Pumpen aufgebend, als unser Schiff auch schon am Riff auffuhr.

Rasch hatten wir den Mast erstiegen – da wälzten sich die fürchterlichsten Wogen über das Verdeck, sofort alle Bretterverschläge mit sich fortreißend, so daß das Schiff auf dem Riff auf- und niedergeschaukelt wurde – und späheten in dieser schreckvollen Lage nach der so schnellen Rettungsmannschaft der Borkumer Insel aus.

Wohl kaum eine Stunde war vergangen, da sahen wir auch schon den Lootsenkutter auf uns zusteuern. Mit freudig gehobener Brust sahen wir die tobende Fluth scharf von seinem Kiel durchschnitten, und mit der einen Hand den von den Wogen hin- und herschwankenden Mast umklammert haltend, winkten wir ihm freudig zu. Unsere Nothzeichen wurden durch Aufziehen der Nothflagge beantwortet, er steuerte aber, uns in einem weiten Bogen umfahrend, zu unserer Besorgniß in nordwestlicher Richtung ab. Doch unsere Sorge sollte nicht lange dauern, denn bald wendete er wieder auf uns zu, und in seinem Schlepptau folgte ihm das Rettungsboot. Jetzt konnten wir endlich mit Gewißheit unsere Erlösung erwarten, als zwei mächtige Wogen sich über unser Fahrzeug stürzten, die erste zertrümmerte unsere Seitenwand, die zweite erfaßte unseren Rettungsmast, mit einem fürchterlichen Krach brach er in der Mitte zusammen, und wir wurden mit ihm in die brandende See geschleudert. Wir Fünf stürzten in die wild umher hängende Takelage, hielten uns darin fest und arbeiteten uns trotz der hohen uns überfluthenden Wogen nach dem andern Mastbaume, an dem wir noch einen kurzen Halt fanden. Der Capitain mit zwei Matrosen verschwand in der See, und ein Matrose tauchte, an den gebrochenen Mastbaum geklammert, der von einzelnen Tauen am Schiff gehalten wurde, bei jeder Welle auf und nieder.

Inzwischen war das Rettungsboot angekommen, warf uns das Rettungsseil zu, und so ließen wir uns durch die schäumenden Wellen hinüberziehen, nur der auf dem Mastbaume aus den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_260.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)