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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

hieb damit seine zehn Kinder zusammen wie kalt Eisen. Manchmal nahm er auch, was ihm gerade in die Hand kam, sei es ein Scheit Holz oder eine Handsäge. Kam er spät Abends vom Geist ergriffen nach Hause, so prügelte er seine Kinder aus dem Schlaf, und Heulen und Zähneklappen tönte durch die Nacht. Das Haus war eine Hölle. Einer der Jungen hielt es nicht aus; als er dreizehn Jahr alt war, lief er davon und wurde ein Seemann.

Die Folgen solcher Erziehung blieben nicht aus. Die zehn Kinder lebten unter einander wie so viele Hunde und Katzen; wurden sie nicht von den Eltern geprügelt, so prügelten, kratzten und bissen sie sich untereinander. Die ganze Brut war verrückt; nur bei Victoria und ihrer Schwester Tennie nahm diese Verrücktheit eine mildere Form an.

Victoria war ein lebhaftes, intelligentes Kind. Ihre ganze Schulzeit erstreckte sich nicht über drei Jahr, zwischen ihrem achten und elften Jahr; allein sie lernte mit wundervoller Leichtigkeit. Las sie eine Seite einmal, so konnte sie dieselbe auswendig. Sie war der Liebling sowohl der Lehrer als der Mitschüler, immer bereit und erfreut, Andern gefällig zu sein.

Während ihrer Schulzeit lebte sie bei einer verheiratheten Schwester, die bereits eine zahlreiche Familie hatte und der sie als Aschenbrödel diente. Sie machte Feuer, sie wusch und bügelte, buk Brod, hieb Holz, bearbeitete den Garten, besorgte Ausgänge, sorgte für die Kinder, kurz that Alles. Vom ersten Hahnenschrei bis zum Abend hieß es fortwährend Victoria! Victoria! und die „kleine Dampfmaschine“, wie sie genannt wurde, that Alles mit fröhlichem Gesicht und war Jedermanns Liebling. Nur in dem Hause ihrer Eltern behandelte man sie mit herzloser Grausamkeit.

Was Victoria vollbrachte, ging natürlich nicht mit natürlichen Dingen zu. So viel wird jeder Leser bereits vermuthet haben, und es wird denselben daher zufrieden stellen, wenn ich bestätige, daß es nicht mit natürlichen, das heißt nicht mit irdischen Dingen zuging. Schon in ihrem dritten Jahre hatte Victoria mit der Geisterwelt in Verbindung gestanden. Zu jener Zeit starb nämlich Rachel Scribner, ihre Amme, ein junges Frauenzimmer von fünfundzwanzig Jahren, und ihre abscheidende Seele nahm die Victoria’s unter den Arm. Während dieser Zeit lag das Kind, nach Aussage der Mutter, drei Stunden lang wie todt da. Die Geister zwei früh gestorbener Schwestern waren stets bei ihr und die Kleine sprach mit ihnen, wie Kinder mit ihrer Puppe zu reden pflegen.

Als sie zehn Jahre alt war und an der Wiege eines kranken Kindes saß, erzählt Victoria, kamen zwei Engel, drängten sie sanft bei Seite und fächelten das kranke Kind mit ihren Händen, bis dessen Gesicht frisch und rosig erschien. Die plötzlich eintretende Mutter fand zu ihrem Erstaunen die kleine Pflegerin wie in einer Verzückung, mit dem Gesicht nach oben gerichtet, auf dem Boden liegend, während das Kind in der Wiege frisch und gesund war.

Der spiritus familiaris Victoria’s, der sie seit frühester Kindheit am häufigsten besuchte, war indessen ein stattlicher Mann in reiferen Jahren in altgriechischer Kleidung. Er verschwieg lange seinen Namen, aber prophezeite ihr einstweilen, daß sie in der Welt große Auszeichnung erlangen, daß sie aufhören werde arm zu sein und daß sie einst in einem stattlichen Hause leben werde; daß sie in einer Stadt mit vielen Schiffen großen Reichthum erlangen, daß sie eine Zeitschrift herausgeben und endlich die Herrscherin ihres Volkes werden würde. Wie er heiße, das versprach der spiritus familiaris ihr erst später zu sagen.

Von ihrem zwölften bis zu ihrem vierzehnten Jahre litt sie schwer an Fieber und Rheumatismus und war körperlich sehr elend. Ein gewisser Dr. Canning Woodhull wurde zu Rathe gezogen und seiner Geschicklichkeit gelang es, das junge Mädchen herzustellen. Warum das der spiritus familiaris nicht selbst besorgte, weiß ich nicht. Dr. Woodhull war ein Taugenichts von der leichtesten Sorte; er hatte das Leben bis auf die Hefe durchgekostet und nichts Gewöhnliches konnte ihn reizen. Im Hause der Clafflins scheint man von dem Privatcharakter des Doctors nichts gewußt oder denselben übersehen zu haben, da sein Vater ein sehr geachteter Richter und sein Onkel Mayor (Bürgermeister) von New-York war.

Der blasirte Doctor fand Gefallen an dem vierzehnjährigen Mädchen, und als er ihr einst in der Straße begegnete, sagte er: „Du kleines Dingelchen sollst mit mir zum Picnic gehen“, zu einem Picnic nämlich, welches zur Feier des 4. Juli stattfinden sollte.

Die Mutter gab die erbetene Erlaubniß, aber der Vater knüpfte sie an die Bedingung, daß sie erst so viel Geld verdienen müsse, ein Paar Schuhe zu kaufen. Sie legte sich einen Aepfelvorrath an und erfüllte die Bedingung durch vortheilhaften Verkauf derselben. Bei der Rückkehr von dem Fest sagte der Doctor plötzlich zu Victoria: „Mein kleines Kätzchen, sag’ Deinen Eltern, daß ich Dich zur Frau haben will.“ Die Eltern waren froh ein Kind los zu werden und Victoria, die anfangs gar nicht wußte, wie ihr geschah, ließ sich auch durch die Aussicht verlocken, vermittelst der Ehe mit dem Doctor den elterlichen Mißhandlungen zu entgehen. Die Hochzeit fand vier Monate später statt.

Das scheint eine wunderbare Ehe gewesen zu sein. Victoria entdeckte bald, daß sie einen unverbesserlichen Taugenichts und Gewohnheitssäufer geheirathet hatte. Sie erfuhr unter andern erbaulichen Dingen, daß ihr Mann am Tage ihrer Hochzeit eine Geliebte aus dringenden Gründen aufs Land geschickt hatte und daß er beständig die Gesellschaft der berüchtigtsten Frauenzimmer besuchte. Gefoltert von Eifersucht schlich sie ihm oft nach, wurde ungesehen Zeuge seiner Nichtswürdigkeiten, betete für seine Besserung und consultirte ihre Geister; allein vergebens: das Unglück dieser Ehe war dazu bestimmt, sie auf den richtigen Weg zu bringen; die Geister mischten sich nicht ein.

Fünfzehn Monate nach ihrer Hochzeit, sie wohnte damals in einem kleinen Häuschen in Chicago, mitten im Winter, gebar sie mit Hülfe ihres halb betrunkenen Mannes ihr erstes Kind, worauf sich der Vater weder um dieses noch die schwache Mutter bekümmerte, bis sich Beider eine mitleidige Nachbarin annahm.

Als sie von einem Besuch in ihrem elterlichen Hause zurückkehrte, erhielt sie die kränkendsten Beweise von der Liederlichkeit ihres Mannes, der sie einen ganzen Monat lang fast ohne Geld allein ließ, während er mit einem Frauenzimmer, das er für seine Frau ausgab, in einem fashionablen Boardinghause lebte, und ging mitten im Winter dorthin, im leichten Kattunkleide, in Gummigaloschen ohne Strümpfe und Schuhe, da sie dieselben nicht besaß. So erschien sie plötzlich vor der beim Mittagessen versammelten eleganten Gesellschaft des Boardinghauses und erzählte ihre leidenvolle Geschichte. Die empörten Gäste zwangen das schamlose Frauenzimmer, ihre sieben Sachen zu packen und die Stadt zu verlassen, während der Doctor wie ein begossener Hund in sein Haus zurückkehrte.

Zu dem Allen kam bei Victoria noch der Schmerz, daß ihr Kind unheilbar blödsinnig war.

In der Hoffnung, ihren Mann auf bessere Wege zu bringen, veranlaßte sie ihn, mit ihr nach Californien zu gehen. Er blieb aber auch dort ein Lump und Beide verkamen beinahe im Elend. Als sie in St. Francisco waren, sah Victoria in der Zeitung, daß in einem Tabaksladen ein Cigarrenmädchen gesucht werde. Sie wurde sogleich angenommen; allein die kaum sechszehnjährige Frau war die groben Scherze der Kunden nicht gewöhnt; sie zitterte und erröthete fortwährend und schon am Abend des ersten Tages sagte ihr Principal: „Meine kleine Dame, Sie sind nicht, was ich brauche, Sie sind zu zimperlich; ich muß Jemand haben, der etwas derber ist.“ Als er mit Erstaunen vernahm, daß sie Gattin und Mutter sei, begleitete er sie zu ihrem Manne, in welchem er einen Bruder Freimaurer entdeckte, was ihn veranlaßte, Victoria ein Zwanzig-Dollar-Goldstück zu schenken.

Victoria versuchte es nun, als Nähterin sich und ihren Mann zu unterhalten, und wurde als solche mit der Schauspielerin Anna Cogswell bekannt. Als sie derselben ihre Noth klagte, rieth ihr die Künstlerin, ebenfalls Schauspielerin zu werden. Sie folgte dem Rath, gefiel und schon sechs Wochen nach ihrem ersten Auftreten verdiente sie zweiundfünfzig Dollars die Woche.

Als sie eines Abends in den „Corsikanischen Brüdern“ auf der Bühne beschäftigt war, hörte sie plötzlich eine Stimme, die ihr zurief: „Victoria, komm nach Hause.“ Sie verfiel augenblicklich in somnambulen Zustand, sah ihre kleine Schwester Tennie in einem gestreiften Kattunkleid neben ihrer Mutter stehen und ihr mit dem Zeigefinger winken. Sobald sie von ihrer plötzlichen Verzückung erwachte, stürzte sie von der Bühne, ohne sich umzukleiden, nach Hause in ihr Hotel, packte sogleich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_225.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)