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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Verlegenheit; wie röthet Dir jetzt schon echt weibliche Scham das bleiche Antlitz, und doch – wenn er wenigstens nur weitersprechen wollte! wenn Du nur nicht antworten müßtest!

Frau v. Krey hatte den Blick zur Erde geheftet; erst nach langer Pause hob sie ihn langsam und schaute mit dem großen, offenen Auge dem ängstlich auf Antwort harrenden Manne in’s Gesicht. Und langsam und ernst, klar und rein wie Glockenton klangen auf’s Neue die Worte aus ihrem Munde, die er schon einmal vernommen hatte: „Nur bei vollständigem gegenseitigen Vertrauen und festen Glauben an das glückliche Gedeihen des Vorsatzes kann er zur That, die Segen bringt, werden.“

Ich sah, wie Herr Bärwald ihr Hand ergriff; wollte er die Rollen vertauschen und jetzt ihr weissagen? und Frau v. Krey ließ ihm diese Hand und hörte, halb vorgebeugt, mit niedergeschlagenen Augen auf die Worte, die er mit leiser Stimme, aber tief erregtem Gefühl ihr zuflüsterte. Da schlich ich mich lautlosen Schrittes durch das Zimmer, in dem ich mich befand, zu der mir gegenüberliegenden Thür, öffnete sie unhörbar und eilte durch die Küche zum Ausgang der Wohnung, um das Paar allein zu lassen.

Ich glaube, er hat noch viel gefragt und sie noch viel geantwortet! Warum sollte ich auch das Ende abwarten? Der Geist des Wahrsagens war nun auch über mich gekommen, und ich konnte das Ende selber prophezeien.

Etwa acht Tage später erhielt ich von Frau v. Krey ein Billet, worin sie mir ihre Verlobung mit dem Rittergutsbesitzer Bärwald mittheilte und mich aufforderte, sie in ihrer neuen Wohnung, die sie noch für die kurze Zeit ihres Aufenthalts in Berlin gemiethet, zu besuchen. Ich eilte zu ihr und ward von ihr nicht minder mit Freundlichkeit als mit heiterem Frohsinn empfangen. Sie erzählte mir, wie sie ihrem Verlobten an jenem Tage ihre ganzem Lebensgeschichte mitgetheilt und, als er trotzdem um ihre Hand angehalten, ihm nicht die Besorgniß verhehlt, daß irgend einmal der Zufall ihren bisherigen seltsamen Beruf, zu dem die Noth sie gezwungen, in den Kreisen seines Umgangs zur Sprache bringen und ihn in Verlegenheit setzen könnte. Er hatte ihr aber lachend geantwortet, daß er selbst zuerst es erzählen werde, daß er eine Prophetin geheirathet, und wenn dann die Leute nicht aus Respect vor der Rache der Hexe sich hüten würden, sie zu lästern, so sei er der Mann dazu, ihr bei aller Welt Achtung zu verschaffen. Gleich darauf erschien ihr Bräutigam; sie stellte mich ihm vor, und es entspann sich schnell zwischen uns eine lebhafte Unterhaltung, in der er sich als einen geist- und kenntnisreichen Mann von vielem und geübtem Nachdenken offenbarte, der auf seinem fernen pommerschen Herrensitz die langen Mußestunden des Winters mit eifrigen literarischen Studien verkürzte und für die politischen Aufgaben der Zeit nicht minder als für die Entwicklung der Naturwissenschaften reges Interesse zeigte. Um so unbegreiflicher erschien es mir, daß ein Mann von solcher Bildung habe nach Berlin reisen können, um eine Wahrsagerin über seine Verlobung mit einem Backfisch um Rath zu fragen, und ich konnte nicht umhin, ihm dies zu sagen und ihn zu bitten, mir das Räthsel zu lösen.

Er antwortete mir unbefangen, er fände dabei eigentlich nichts Wunderbares. „Sie haben,“ sagte er, „sicherlich oft, wenn Sie sich in der unbehaglichen Lage befanden, einen Schritt zu thun, der Ihnen vielfache Vortheile bot, über dessen Richtigkeit Sie aber trotzdem Zweifel hegten, die Erfahrung gemacht, daß kein sicheres Mittel denselben zu prüfen existirt, als daß man sich auf Reisen unter fremde Menschen begiebt und dann aus der Ferne, gleichsam aus der Vogelperspective, die Dinge betrachtet, über die man in der Nähe keinen richtigen Ueberblick gewinnen konnte. Dies war wohl auch bei mir der Hauptgrund für meine Reise, und ich war kaum vierundzwanzig Stunden in Berlin gewesen, als ich bereits Abneigung gegen mein ursprüngliches Heirathsproject empfand, und diese Abneigung vermehrte sich nicht nur durch meine Bekanntschaft mit Frau v. Krey, sondern auch durch den trefflichen Orakelspruch, durch den mir das Mißliche meines ursprünglichen Planes klar wurde. Fragen Sie nun aber, warum ich mich entschloß, hier zu einer Wahrsagerin meine Zuflucht zu nehmen, so war das nichts Anderes, als was so Viele in der Unentschlossenheit thun, wenn sie die Knöpfe auf Ja oder Nein abzählen. In Wahrheit wirft man sich gar nicht damit dem Fatalismus in die Arme, sondern folgt seiner Weisung nur in dem Falle, daß dieselbe mit unserm stillen, uns selbst noch unklaren Wunsche übereinstimmt.“

„Ei, ei!“ sagte Frau v. Krey lächelnd und mit dem Finger drohend zu ihrem Bräutigam. „Da scheint mir ja das unbedingte Vertrauen und der feste Glaube an meine Befähigung schon vor der Hochzeit geschwunden zu sein.“

Herr Bärwald ergriff ihre Hand, küßte sie und erwiderte: „An Ihre übernatürliche Prophetengabe habe ich nie geglaubt und glaube ich auch jetzt nicht, aber mein unbedingtes Vertrauen auf Sie und meinen festen Glauben, daß Sie mich glücklich machen werden, will ich und werde ich nicht aufgeben.“




Die Leipziger Nachtigall.



Deutsche Kraft und Energie errangen unserer Nation jene künstlerische Herrschaft, vor welcher sich alle übrigen Länder der Erde beugen und deren siegende Gewalt in der alten und neuen Welt gern und willig anerkannt wird. Gewiß ist die allseitig gewürdigte Bedeutung der deutschen Tonkunst zunächst den tiefen productiven Naturen zu danken, welche aus dem Reichthum ihrer Ideen die köstlichsten Schätze wählten und mit diesen ihre Zeit und die Nachwelt beschenkten. „Seid umschlungen, Millionen!“ tönte es aus Beethoven’s „Harmonien“, die mit Zaubermacht während der erschütterndsten Kämpfe das Land durchbrausten und die Feier des Friedens in hehren Klängen verherrlichten. Ueber Land und Meer drang der Ruf und immer weiter zog sich der Kreis, in welchem die Musik Beethoven’s und seiner Vorgänger das Scepter führt.

Zu dieser Ausdehnung des deutschen Kunstreichs haben aber auch nicht wenig die musikalischen Wandervögel beigetragen, welche überall Land und Leute durch ihren Gesang annectirten, wo sie erschienen, denen sich das fremde Gemüth willig unterwarf, sobald die deutschen Weisen ertönten, und deren Singen unwiderstehlich zur Verehrung hinriß für die Tonkunst unseres siegreichen Volkes.

Auch dieses Jahr sind wieder einige von den bewunderten Wandervögeln über das Salzwasser geflogen, um für die deutsche Musik neue Lorbeern zu sammeln, und sehnsüchtig wartet man in der Heimath auf die Rückkehr, damit das eigene Nest nicht in Unordnung gerathe, sondern die gebührende Pflege erhalte. Die Musen- und Meßstadt Leipzig befindet sich gegenwärtig in solcher Lage, weil einer ihrer kostbarsten Singvögel, nachdem er erst in der Schweiz dort kaum jemals gesehene Triumphe eingesammelt hat, jetzt englisch spricht und in Großbritannien mit dem ganzen Zauber des herrlichen Organs die mit seltener musikalischer Ausdauer begabten englischen, schottischen und irländischen Seelen umstrickt. Zunächst in den philharmonischen Concerten und in den Aufführungen des Krystallpalastes zu London erringt Minna Peschka-Leutner, die gefeierte Leipziger Gewandhaus- und Bühnensängerin, neben der großen, unvergleichlichen Pianistin Frau Clara Schumann und dem Geigerkönig Joachim Sieg auf Sieg, und dort weiß man bereits, daß diese Vermittlerin Mozart’scher Musik den höchsten Gipfel künstlerischer Ausbildung erreicht hat, welchem eifersüchtige Kritteleien niemals die Krone rauben können. Längst hat man in Deutschland die Größe und Bedeutung dieser Künstlerin erkannt, deren Vielseitigkeit, mustergültige Technik, riesenhafter Fleiß und bewundernswerthe kräftige Natur alle Aufgaben und Anstrengungen überwanden, welche die rheinischen Musikfeste, die größten Concertinstitute in den hervorragendsten Städten, sowie die angesehenen Bühnen unseres Vaterlandes von ihr forderten. Bald wurde sie zu Sololeistungen für die neunte Symphonie Beethoven’s, bald zur Uebernahme der schwierigsten Partien in Händel’schen Oratorien berufen. Rastlos war sie in Concerten für wohlthätige Zwecke thätig, an dem einen Orte durch staunenerregende Coloratur-Arien die Freunde musikalischer Technik enthusiasmirend, an dem andern durch sinnige Einfachheit und gewinnende Lyrik das Herz rührend.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_222.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)