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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Nächtiges Dunkel deckt noch die wildeinsame, erhabene Berg- und Waldesnatur, welches durch die soeben über dem Saume eines Felsenrückens aufgegangene Sichel des abnehmenden Mondes nur schwach und darum so geheimnißvoll erhellt wird. Doch bald dämmert auch gen Osten, zwischen grauen Tannenstämmen und über deren schwarzzackigen Wipfeln, bleicher Schimmer auf – es ist des herannahenden Morgens erster verkündender Schein. Und mit diesem erhebt sich alsbald, erst ganz leise, dann stärker werdend, eine frische Luftströmung und rauscht nun mit wunderbar melodischem Klingen durch die schwankenden Zweige alle, die der himmelanstrebende Hochwald zum Aether streckt, dessen leuchtendes Gestirn nun auch schon den Gebirgskamm goldig überstrahlt. Droben aber, wenn auch nicht in höchster Höhe, sondern noch in der Region des düstern Tannenbestandes, erhebt sich jetzt der herrscherliche Räuber „Braun von Urich“ aus seinem Felsennest, wo er unter Geklüft und darüber gestürztem Windbruch sein Lager aufgeschlagen, und steigt niederwärts, vielleicht nur in der unschuldigen Absicht, in die Eichel- und Bucheckermast zu wandern, welche der Herbst, sammt dem bunten Blätterschmuck der schon frostgedrückten Baumkronen zur Erde gebettet hat. Plumpen, zoddelnden Schrittes wandelt der ungeschlachte, aber um so wehrhaftere Cumpan seines einsamen Pfades dahin, bald hier, bald da den Boden nach Ameisen oder etwa einer fetten Larve beschnopernd, oder er macht einmal mit hochgehaltener Nase kurzen Halt, um den Wind einzuholen. Und wohl muß ihm dieser im Augenblicke gute Kundschaft gebracht haben, denn plötzlich biegt er, nachdem er sichtbar wohlgefällig die Witterung von seitwärts eingesogen, nach dieser Richtung ab, und mit beschleunigtem Trott geht es nun hin, hier auf losem Geröll, dort zwischen und über Felsblöcke und sturmgebrochene oder in sich selbst zerfallene, faulende Stämme. Durch all dieses Gewirr steigt und drängt der beharrliche Bursche hindurch, nicht einen Augenblick schwankend ob der Richtung, die er innezuhalten hat, denn eines Bären Nase ist zu „infallibel“, um sich auf einer einmal angenommenen Fährte täuschen zu können. Und richtig! Sein so unglaublich ausgebildeter Geruchssinn hat ihn bald einem kleinen Felsenkessel zugeführt, der auf seinem schwarzen Modergrunde einen tief dunkelglänzenden Quell birgt.

Vor diesem, unter überragenden uralten Fichten, liegt, vom felsigen Beckenrande rückwärts halb hinabgeglitten, das Hintertheil vom moorbraunen unheimlichen Wasser überspült, ein verendeter starker Hirsch, der jedenfalls im kühlenden Naß die von einem Gegner empfangene schwere Wunde zu netzen hierher geflüchtet und dabei vom Tode überrascht worden war. Angesichts solch edlen Gedeckes schreitet die edle Walddurchlaucht „Vetter Braun“, allerhöchst vergnüglich dabei brummend, ohne Einhalt darauf los, wobei ihm das niederhängende morsche Geäst einer quer über seinen Weg gestürzten, doch auf hohen Felsblöcken noch Stützpunkt findenden alten Tanne den zottigen Pelz durchhechelt, daß daran die dürren Zacken knackend und klirrend auf den harten Steinboden niederschlagen. Dies zieht jedoch unsern hohen Herrn durchaus nicht von seinem nahen Ziele ab. Vielmehr hat er dieses rasch genug erreicht, um es nun zuvörderst von allen Seiten zu beschnüffeln. Dann aber legt der begehrlich Gewordene sich mit ganzem Leibe, als fürchte er immer noch eine Einbuße, über das stattliche Opfer, dessen auch im Tode noch so schöner Kopf mit dem mächtigen Geweih gegen einen Granitblock lehnt.

Kräftigen Risses schneidet der Fleischlüsterne seine so leicht errungene köstliche Beute an und zwar zuerst in der Flanke, von wo aus er dann mit sichtlichem Behagen und schmatzend und knirschend, je nachdem er Weichtheile verschlingt oder Knochen zermalmt, sich weiter und weiter des so leckern Mahles bemächtigt. Dann aber, wenn er gesättigt ist, bedeckt er die noch immer reichlichen Ueberreste mit Reisig und Moos, denn wie die Regel es lehrt, kehrt der Bär, welcher – zu seiner Ehre sei’s gesagt – niemals aus bloßer Mordsucht neuen Raub schlägt, sobald er vom alten noch zu zehren hat, später nach solchem zurück. Aus diesem Grunde sucht auch wohl der eben Befriedigte in nächster Nähe seines versteckten Vorrathes einen passenden Ruheort, wo er so lange sorglos schläft, bis ihn der wieder rege werdende Hunger von Neuem seines vergrabenen Schatzes gedenken und diesen vollends aufzehren läßt, bis zuletzt nur noch die stärksten Gebeine, wie Schädel, Geweihe, Hals- und Rückenwirbel und die Becken, sowie die hornigen Schalen der Läufe nebst Fetzen von Haut, die Stelle bezeichnen, wo der kraftvolle Waldbeherrscher getafelt hat. Alle diese Ueberbleibsel werden aber nachträglich auch noch von dem kleinern Raubzeuge des Waldes, bis zur Ameise herab, benagt und so von allen noch daran hängenden Fleisch- und anderen Weichtheilen gesäubert, während Licht, Sonne und Wetter schließlich die kahlen Knochenreste bis zur blendenden Weiße bleichen und dann diese Todtenmale schaurig aus dunkler Bodenumgebung hervorleuchten.




Ein Tag zu viel oder – zu wenig?


Daß der Wechsel von Tag und Nacht durch die Drehung der Erde um ihre Achse entsteht – wer wüßte dies nicht? daß hierdurch ein Unterschied in der Zeit herbeigeführt wird, je nachdem ein Ort mehr östlich oder westlich gelegen ist – auch das ist bekannt; das nachstehend erörterte, eigenthümliche Resultat dieser Beziehungen aber, welches zum Theil nur eine Consequenz der irdischen Zeitverhältnisse, zum Theil jedoch ein Ergebniß unserer Culturentwicklung ist, ist weit entfernt davon, allgemein genug bekannt zu sein, und in den betreffenden Fachwerken pflegt sich über den ersteren Punkt sehr wenig, über den letzteren gar nichts zu finden. Und doch sind die hierauf sich gründenden Thatsachen für unseren Verkehr mit entfernteren Gebieten der Erde – sowohl in praktisch mercantiler, wie wissenschaftlicher Beziehung – wichtig und deshalb des Interesses jedes Gebildeten werth.

Alle Orte, die auf einem und demselben Meridian (das heißt einem der Kreise, die man sich auf der Erde senkrecht zum Aequator und durch beide Pole gehend gezogen denkt) liegen, welche also gleiche „geographische Länge“ haben, haben in demselben Augenblicke Mittag, überhaupt dieselbe Zeit. Dies ist z. B. annähernd der Fall in Dresden und Triest, noch genauer in Leipzig und Venedig, deren Uhren fast übereinstimmen.

Geht man dagegen von einem Meridiane aus auf irgend einem Parallelkreise d. h. einem der Kreise, die man sich in gleichem Abstande vom Aequator rings um die Erde gezogen denkt) nach Osten oder Westen, so hört diese Uebereinstimmung in der Zeit auf, und zwar geht die Uhr eines östlicher gelegenen Ortes stets gegen die des westlicher gelegenen vor, da dem ersteren ja wegen der von Westen nach Osten erfolgenden Drehung der Erde die Sonne früher aufgeht; diese Zeitdifferenz beträgt für jeden Grad 4 Minuten. So ist z. B., wenn es in Warschau Mittag ist, in St. Petersburg 12 Uhr 37 Minuten, in Jekaterinenburg 2½ Uhr, am Ausflusse des Jenissei 4½ und an der Mündung der Lena 6½ Uhr Nachmittags, in der Behringstraße aber schon 11 Uhr Nachts.

Auf diesen Verhältnissen beruht auch die von den ersten Erdumseglern gemachte Erfahrung, daß ein Schiff, welches die Erde von Osten nach Westen – also in gleicher Richtung mit der scheinbaren Bewegung der Sonne – umschifft, wenn es wieder bei seinem Abgangshafen ankommt, um einen ganzen Tag in der Zeitrechnung zurück ist, während, wenn die Reise von Westen nach Osten – also der Sonne entgegen – gerichtet war, die Schiffsrechnung um einen Tag voraus ist.

Diese Erfahrung machten zuerst Elcano und seine Gefährten, als sie Donnerstag den 10. Juli 1522 mit der „Victoria“, dem letzten der von der Magalhaens’schen Expedition übrig gebliebenen Schiffe (Magalhaens selbst wurde bekanntlich auf den Philippinen in einem Kampfe mit den Eingeborenen getödtet) an der capverdischen Insel Santiago landeten, während sie nach der Schiffsrechnung erst Mittwoch den 9. Juli hatten.

Als nach der Rückkehr dieser ersten Weltumsegler nach Spanien der venetianische Gesandte Contarini die richtige Erklärung für den „verlorenen Tag“ fand, hielt man dieselbe nicht einmal allgemein für richtig, sondern machte sich vielfach darüber lustig. Wäre indessen schon damals die Verbreitung des Wissens eine so schnelle und allgemeine gewesen, wie in der neueren Zeit, so hätte man gewußt, daß schon zweihundert Jahre früher ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_213.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)