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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Bernhard war an den Tisch zurückgetreten; noch behauptete seine ruhige Natur ihr Recht einem Schlage gegenüber, der vielleicht jeden Andern außer Fassung gebracht hätte; nur etwas bleicher war er geworden.

„Und wessen beschuldigt man mich?“ fragte er langsam.

„Das werden Sie in E. erfahren.“

„Mein Herr!“ In Günther’s Stimme gab sich jetzt doch die verhaltene Aufregung kund. „Ich werde doch wohl das Recht haben zu fragen, weshalb man mich plötzlich aus meinem Hause reißen und in’s Gefängniß schleppen will! Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß ich auch nicht die leiseste Ahnung davon habe.“

Der Beamte zögerte. Vielleicht siegte die Rücksicht gegen den Mann, der ihm bekannt, ja fast befreundet war, vielleicht glaubte er auch durch Ueberraschung zu wirken und ein Geständniß zu erpressen, genug, er setzte die Amtsformalitäten, die hier ohnedies nicht so streng gehandhabt wurden, auf einen Augenblick aus den Augen und entgegnete ernst:

„Der gegen Sie schwebende Verdacht hängt mit der Ermordung des Grafen Rhaneck zusammen.“

Bernhard richtete sich heftig auf. „Hält man mich etwa für den Mörder des Grafen?“

Der Landrichter schwieg und sah ihn fest an. „Die Untersuchung wird das Nähere ergeben,“ sagte er endlich ausweichend. „Für jetzt ersuche ich Sie, mir unverzüglich zu folgen; mein Wagen wartet draußen; die Abfahrt wird in aller Stille und vorläufig noch ohne jedes Aufsehen geschehen.“

„Nein, das wird sie nicht!“ tönte plötzlich eine fremde Stimme dazwischen. Die Thür des Nebenzimmers war aufgeflogen, und auf der Schwelle stand, außer sich, hochroth im ganzen Gesichte, Fräulein Reich; hinter ihr erschien das bleiche Antlitz Luciens.

Franziska begnügte sich keineswegs mit diesem Proteste aus der Entfernung. Rasch schritt sie durch das Zimmer und stellte sich dicht an Günther’s Seite, als sei dies der Platz, der ihr von Rechtswegen gehöre und den sie sich von Niemandem auf der Welt streitig machen lasse.

„Nein, das wird sie nicht!“ wiederholte sie zornbebend. „Glauben Sie etwa, wir lassen uns hier in Dobra so ohne weiteres überfallen und wegschleppen, blos weil es Ihren Gerichten einfällt, einen geradezu lächerlichen Verdacht auf uns zu werfen? Herr Günther, Gott im Himmel! so stehen Sie doch nicht da mit dieser entsetzlichen Gelassenheit, als ob man Sie zu einer Spazierfahrt aufforderte! Gebrauchen Sie doch Ihr Hausrecht und zeigen Sie, wer hier Herr auf diesem Grund und Boden ist!“

„Mein Fräulein,“ sagte der Landrichter sehr höflich, aber sehr bestimmt, „ich begreife, daß Sie in der Aufregung und dem Schreck des Augenblickes Ihre Worte nicht allzu genau wägen. Das Gesetz muß seinen Lauf haben, und ich habe für alle Fälle zwei meiner Leute draußen, ich hoffe nicht in den Fall zu kommen, sie herbeirufen zu müssen.“

Franziska zuckte zornig die Achseln. „Es ist ihr Glück, wenn sie nicht in den Fall kommen, versichere ich Ihnen. Herr Günther wirft sie alle beide zum Fenster hinaus, wenn es ihm sonst beliebt, und Sie, Herr Landrichter,“ sie blickte sehr verächtlich auf den kleinen schwächlichen Beamten, „Sie nehme ich nöthigenfalls auf mich!“

Der also Bedrohte wich zurück und warf einen Blick auf die Thür. Er kannte das sehr entschiedene Wesen der Dame schon von früheren Begegnungen her, und zweifelte nicht, daß sie im Stande sei, ihre Drohung im Nothfall auch auszuführen. Er hatte bei anderen Verhaftungen schon genug Scenen des Schreckens und Entsetzens von Seiten der Angehörigen erlebt, aber solch eine rücksichtslose Empörung gegen die gesetzliche Gewalt war ihm denn doch nicht vorgekommen. Zum Glück kam ihm Günther zu Hülfe.

„Ruhig, ich bitte Sie!“ sagte er gelassen, aber fast befehlend, indem er die Hand auf den Arm seiner energischen Vertheidigerin legte. „Ich wiederhole Ihnen, es ist ein Irrthum, der sich aufklären muß. Der Thäter muß über kurz oder lang gefunden werden, ich nehme Ihren ganzen Amtseifer dafür in Anspruch, mein Herr, denn geschieht es nicht, so würde mit dem Verdachte auch ein Flecken auf meiner Ehre haften bleiben, der nie auszulöschen wäre, selbst wenn man sich gezwungen sieht, mich freizusprechen.“

Es lag doch eine tiefe Blässe auf dem Gesicht des Mannes bei diesen Worten, sie verrieth, wie furchtbar er trotz alledem erregt war. Dem Beamten imponirte diese Haltung doch.

„Von unserer Seite wird selbstverständlich Alles geschehen, was im Bereiche der Möglichkeit liegt,“ entgegnete er, „und nun –“

„Sie werden mir doch erlauben, von meiner Schwester und meiner Hausgenossin Abschied zu nehmen?“ unterbrach ihn Bernhard.

Der Landrichter verneigte sich zustimmend und zog sich bis an die Thür zurück, aber ohne seinen Gefangenen aus den Augen zu lassen; dieser wandte sich um.

„Komm zu mir, Lucie!“

Lucie stand noch immer auf der Schwelle des Nebenzimmers. Es war in der That eine furchtbare Veränderung mit ihr vorgegangen und es schien nicht blos die letzte Viertelstunde zu sein, die diese Veränderung hervorgebracht. Das liebliche, einst so rosige Antlitz war bleich wie der Tod, die Lippen krampfhaft geschlossen, als müßten sie gewaltsam eine innere Qual verbergen, die sonst so weichen Züge schmerzvoll gespannt, und in den blauen Augen stand nichts mehr von Kinderglück und Kinderfrohsinn zu lesen. Franziska hatte Recht, es lag eine leichenhafte Starrheit in diesem Blick und dem ganzen Wesen des jungen Mädchens.

Erst der Ruf des Bruders schien sie wieder zu sich zu bringen, sie flog auf ihn zu und legte den Kopf an seine Schulter, aber die Thränen, die sonst immer so leicht und reichlich flossen, kamen diesmal nicht, das Auge blieb trocken, wie es die ganze Zeit über gewesen.

Bernhard beugte sich beruhigend zu ihr nieder. „Aengstige Dich nicht, Lucie! Ich hoffe bald zu Euch zurückzukehren, bis dahin bleibst Du in der Obhut von Fräulein Reich, ich kann Dich keinen besseren Händen anvertrauen. Lebe wohl.“

Lucie hob das Auge zu ihm empor, aber es war ein Blick so grenzenloser Angst, so hoffnungsloser Verzweiflung, daß seine Stirn sich plötzlich umdüsterte.

„Kind!“ fragte er vorwurfsvoll. „Hältst Du Deinen Bruder für einen Mörder?“

Das junge Mädchen zuckte zusammen bei diesem Worte, in der nächsten Secunde aber schlang sie leidenschaftlich beide Arme um seinen Hals.

„Nein, mein Bernhard! Dich nicht!“

Es war ein herzzereißender Ausdruck in diesem Tone, der Bruder verstand ihn nicht, er sah darin nur die Angst um ihn selber; aber Franziska ahnte mit dem Instinct der Frau, der geängstigten Frau, die jetzt für ein fremdes Leben zitterte, die wahre Bedeutung. Sie wollte auffahren, wollte eine heftige Frage an Lucie richten, zwang sich aber mit einem Blick auf den Beamten zum Schweigen.

Günther ließ mit anscheinender Ruhe seine Schwester aus den Armen und wandte sich zu ihr, aber jetzt senkte er die Stimme so, daß nur sie allein ihn verstehen konnte.

„Ich muß nun auch Ihnen Lebewohl sagen, hoffentlich nicht auf lange. Es war sehr thöricht und nutzlos, daß Sie es wagten, sich dem Beamten zu widersetzen, sehr! Aber es geschah um meinetwillen – ich danke Ihnen, Franziska!“

Es war das erste Mal, daß er den Namen wieder aussprach seit jener Unterredung zwischen ihnen, unwillkürlich senkte Franziska das Auge. Das energische trotzige Fräulein, das eben noch bereit war, es mit allen Gerichten der Welt aufzunehmen, zitterte leise, als seine Hand die ihrige faßte, noch ein fester verständnißvoller Druck, dann ließ er sie wieder sinken.

„Und jetzt keine Abschiedsscenen weiter! Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Landrichter!“ –

Die beiden Frauen blieben allein zurück. Franziska eilte an’s Fenster und sah Günther mit seinen Begleitern einsteigen, Lucie verharrte unbeweglich auf ihrem Platze, sie regte sich nicht. Erst als der Wagen den Hof verlassen hatte und sein Rollen ferner und ferner verhallte, wandte sich die Erstere wieder um, ein paar große Thränen standen in ihren Augen, aber es war jetzt keine Zeit zum Weinen. Sie näherte sich rasch dem jungen Mädchen, zog sie an sich und blickte ihr fest in’s Gesicht.

„Und nun stehen Sie mir einmal Rede, Lucie! Vorhin in Gegenwart des Richters konnte ich Sie nicht fragen, es hätte den albernen Verdacht vielleicht bestärken können, jetzt aber sind

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