Seite:Die Gartenlaube (1872) 162.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

zum klaren, sommerlichen Sternenhimmel und auf den weiten, stillen Augustusplatz bis hinüber zu einem andern Kunsttempel, dem Museum, das sich mit seinen großen, schönen Formen hell aus dem Dunkel der Nacht hebt.

Durch die Flügelthüren des Balcons aber weht die kühlende Nachtluft herein in das menschenerfüllte, glanzdurchwogte Foyer. Namentlich an Operntagen rauscht es und drängt es sich hier in bunter Menge, Kopf an Kopf, sich langsam vorwärts schiebend, sich neckend, sich zurufend, lachend, scherzend, da und dort sich wohl auch zu verstohlenem Geflüster zusammenneigend. So drängt es und schwirrt es hin, in reichen Toiletten, in bunter Pracht, bis die Klingel zum Beginn des nächsten Actes ertönt und sich der eben noch übervolle Saal wieder wie mit Einem Schlage leert.

Unser Zeichner hat von dem Leben und Treiben im Foyer des Leipziger Theaters ein Bild geliefert, das fast alle Berühmtheiten Leipzigs in bester Weise auf einen Punkt zusammendrängt. Die Leipziger Leser der Gartenlaube werden leicht die ihnen bekannten Gestalten herauserkennen; unseren auswärtigen Lesern aber, von denen gewiß Viele schon unsere Stadt besucht haben, müssen wir es überlassen, aus den verschiedenen Gruppen des Bildes Roderich Benedix, dessen Name überall gefeiert ist, wo eine deutsche Bühne je ihre Bretter aufgeschlagen hat, Fritz Hofmann, den unsere Leser aus seinen vortrefflichen Beiträgen kennen, die beiden Kritiker auf dem Gebiete des Dramas, Gottschall und Buchholz, dann die auf dem Gebiete der Musik, Bernsdorf und O. Paul, endlich den aristokratischen Herrn von Strantz, den Capellmeister Mühldorfer, den Componisten August Horn, die so beliebten als tüchtigen Mitglieder unserer Oper, Herrn Groß und die beiden Damen Mahlknecht und Borrée, sowie unsere muntere Liebhaberin, Fräulein Zipser, herauszufinden. Auch das Oberhaupt der Stadt sammt dem Theaterinspector werden sie bei genauerem Nachforschen vertreten sehen und sich freuen, vielleicht bei einem späteren Besuche in Leipzig allen diesen berühmten und angesehenen Herrschaften in Wirklichkeit wieder einmal auf dem Foyer zu begegnen.




Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
X.


Sicher, verehrte Frau, ist in Ihr Tusculum am Strande des Meeres die Kunde von der glänzenden Jubelfeier, von dem Tode und feierlichen Begräbniß eines Wiener Dichters gedrungen, in welchem Oesterreich mit seltener Einstimmigkeit seinen „Goethe“ feiert. In Norddeutschland freute man sich herzlich, daß einem greisen Dichter eine so schöne Anerkennung, ein so später Lorbeer zu Theil geworden, als der achtzigjährige Geburtstag Franz Grillparzer’s in der Donaustadt einen solchen Enthusiasmus wachrief; denn wer freute sich nicht, wenn ein Volk seinen Dichter ehrt? Dennoch war man befremdet über solche Feier; denn der Dichter der „Ahnfrau“ gehörte zu den verschollenen Größen der Literaturgeschichte, und nicht allzu viele hatten eine Sappho und Medea über die weltbedeutenden Bretter wandeln sehen.

Ich weiß, verehrte Freundin, daß Ihnen Namen Schall und Dunst sind, daß Ihr Interesse an literarischen Dingen ernst und aufrichtig genug ist, um sich nicht mit dem zu begnügen, was die hochgehende Welle des Tages Ihnen zuspült. Sie haben, als Sie von der Grillparzerfeier lasen, zum Buchhändler geschickt; Sie haben sich Grillparzer’s sämmtliche Dichtungen kommen lassen, vielleicht in der Hoffnung, eine elegante Miniaturausgabe, mindestens doch eine anständige Gesammtausgabe zu erhalten; denn wenn auch Jahrzehnte hindurch Geschlechter undankbar und vergeßlich gewesen wären, vor einer solchen Jubelfeier, welche den Enthusiasmus vieler Tausende schon im Voraus erregt, mußten doch die Dichtungen des Gefeierten nicht ein-, sondern mehrmals aufgelegt von Hand zu Hand gehen!

Ach, Sie wissen nicht, wie es mit der Begeisterung der Deutschen für viele ihrer Dichter bestellt ist; man ist für sie begeistert, aber man liest sie nicht; man liebt und ehrt sie, so zu sagen, aus zweiter Hand; man windet ihnen Kränze, man weiht ihnen Thränen der Rührung und des Entzückens; aber man kennt vielleicht nur zufällig irgend einen Vers von ihnen oder den Titel eines oder des andern ihrer Werke; man war vielleicht einmal im Theater, als diese oder jene berühmte Künstlerin in einer Rolle des Dichters auftrat, und besinnt sich auf die Rolle und im besten Falle gelegentlich auf den Dichter dazu. Je größer ein Dichter ist, desto weniger wird er gelesen, je unsterblicher, desto mehr schreckt er vor jeder Annäherung zurück. Sie lächeln skeptisch, verehrte Frau? Sehen Sie doch nur Grillparzer’s „goldenes Vließ“ und andere dramatische Dichtungen in Ihrer Hand an, dies ehrwürdige Löschpapier, diese vergilbten Lettern, dies veraltete Format – alles das, was auf eine verlegene literarische Waare deutet. Die elegantesten und vornehmsten Damen des österreichischen Kaiserreichs, die dem Dichter an seinem Jubeltage persönlich ihre Huldigung darbrachten, konnten ihre Begeisterung nur aus dem Quell dieser alten ehrwürdigen Drucke schöpfen, mußten ihre Toilettentische, wenn sie sich in die Lectüre ihres gefeierten Lieblings vertiefen wollten, mit diesem unmodernen und uneleganten buchhändlerischen Caliber beschweren. Und wenn sie zu sehr den aristokratischen Parfüm liebten, um ihn durch den wehmüthigen Duft poetischer Maculatur zu beeinträchtigen – nun, so blieb der Dichter eben ungelesen. Man kennt ihn übrigens ja aus dem Burgtheater – und ob gelesen oder nicht – er bleibt doch immer Oesterreichs größter Dichter.

Halten Sie diese Betrachtungen für zu profan? Sie sind es nicht; ich glaube mich dabei auf einen Mitschuldigen berufen zu können, den Sie nicht ablehnen dürfen – es ist der Dichter selbst, der nicht blos ein schwunghafter Lyriker, sondern auch ein feiner und scharfer Kopf war und im Grunde seines Herzens den ungestümsten Huldigungen gegenüber einen beharrlichen Zweifel wahrte. Er mußte sich sagen, daß nur wenige seiner dramatischen Werke neue Auflagen erlebt hatten, daß seine letzten Dramen von dem Publicum des Burgtheaters abgelehnt worden waren, daß er in den deutschen Literaturgeschichten in Einem Sarkophag mit den längst verstorbenen Schicksalstragöden ruhte, daß lange Zeit nur eine sehr kleine Gemeinde den Cultus seiner Dichtung pflegte. Und wenn er nun Jahrzehnte seines Lebens in halber Vergessenheit hingebracht hatte, wenn er gealtert war in stiller Resignation auf den vollen Lorbeer, den die Träume seiner Jugend ersehnten, wenn dann allmählich an der Wiener Burg durch den Eifer eines befreundeten Directors seine Stücke wieder festeren Boden gewannen, ein jüngeres Geschlecht sich ihm wieder lebhafter zuwandte und nun im höchsten Alter, in einem Alter, welches zu erreichen nur ausnahmsweise den Sterblichen vergönnt ist, der Enthusiasmus der Deutsch-Oesterreicher ihn mit Ehren überhäufte, der Kaiser ihm glänzende Auszeichnung zu Theil werden ließ, die hohe Aristokratie, die Würdenträger der Krone, die städtischen Behörden, das ganze Volk von Wien ihm begeistert zujauchzte – mußte er nicht dieser plötzlichen Verherrlichung eines schönen und späten Lebenstages im Stillen die Bitterkeit so vieler einsam vergrämter Jahre entgegenstellen, nicht sein hohes Alter, das so stürmischer Huldigung gegenüber doppelt seine Schwäche empfand, mußte er nicht wehmüthig ausrufen: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!“ und vielleicht im Innern seines Herzens hinzusetzen: „Zu spät für mich, fast wär’ es auch zu spät für Euch gewesen!“

Das ist deutsches Dichterloos, verehrte Frau! So lange man den Lorbeer glühend ersehnt, entzieht er sich heimtückisch unserer Stirn, doch der schöne Rausch des Ruhmes wird voll nur in der Jugend empfunden; das Alter erkennt zu sehr die Eitelkeit und Vergänglichkeit aller irdischen Dinge; der frische Lorbeerkranz verwelkt in seiner Hand und sein unheimliches Rascheln kündet, wie bald die welken Blätter abfallen werden.

Daß die Deutschen ihre Dichter nicht lesen, nur aus Literaturgeschichten kennen, das hatte auch Grillparzer zu schmerzlich erfahren, um es nicht auszusprechen; er sagt in einem seiner hinterlassenen Epigramme:

 Literaturgeschichte.
Ihr kauft die Katze gern im Sack,
Genießt das Lebend’ge im Buch,
Und statt zu prüfen mit dem Geschmack,
Begnügt ihr euch mit dem Geruch.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_162.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2018)