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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Laufbahn geführt. Er kam zunächst in’s Consistorium, dann in das Oberappellationsgericht und endlich in’s Ministerium. Kein Katholik, der in dem protestantischen Hannover jemals in solche Stellung gekommen wäre! Auch traten die Folgen davon bald zu Tage. Bei Hofe wurde man den pietistischen oder richtiger den papistischen Einflüsterungen zugänglich; Jesuiten fanden dort Zulaß, welche – es war die Zeit, wo Preußen mit seinen Hegemonieplänen scheiterte – die hannoversche Politik in Oesterreichs Lager hinüberzuführen und den König Georg wo möglich katholisch zu machen suchten. Der bekannte Pater Roh, ein Jesuit, hielt in Hannover Predigten, und sie fanden bei Hofe eine auffällig freundliche Aufnahme. Daß hier der Minister Windthorst die beschützende und Platz machende Hand bildete, war unzweifelhaft; denn als er nach dem Reactionsregimente des Grafen Borries zum zweiten Male das hannoversche Staatsministerium erhielt, ging das ultramontane Muckern am Hofe von Neuem los.

In politischer Hinsicht führte Windthorst übrigens die Geschäfte in gemäßigt liberalem Sinne. Beim zweiten Rücktritt erhielt er dann die einflußreiche Stelle eines Oberkronanwalts, in welcher er bis zu der Annexion Hannovers blieb und noch die persönlichen Angelegenheiten des Königs Georg mit Fürst Bismarck ordnete. Der bedenkliche Preußenfeind wurde dann aber von diesem Posten entfernt und vertrat die welfischen Interessen nur noch als Abgeordneter in Berlin, bis er sie glücklich mit den ultramontanen verkuppelte und nun unter der päpstlichen Flagge in’s hohe Fahrwasser der Politik hinaussegelte. Wie er auf dem Boden der preußischen Verfassung steht, darüber hat er sich, seiner Auslassung nach, mit seinem Gewissen und mit seiner Kirche arrangirt. Ein in Rom so angesehener und um die moderne ultramontane Politik so verdient gewordener Mann muß auch mit seinem Gewissen sich im Reinen fühlen; denn, wie man sagt, hat ihm der Papst in eigenhändigem Lobschreiben zugleich Ablaß für drei Generationen ertheilt. Die Stelle in der Rede Bismarck’s, welche von dem erbittertsten Feinde einer bestimmten Monarchie spricht, „der unter der Maske der Sympathie für diese Monarchie sich an deren König heranzudrängen suche, um ihm einen Rath zu ertheilen, der für diese Monarchie sehr gefährlich sei“ – Windthorst wird sie wohl zu würdigen gewußt haben. Es sollen die schwarzen Ratten schon längst auch am preußischen Hofe wühlen.

Ein stolzeres Haupt, ein stattlicheres Wesen hat der Oberappellationsrath August Reichensperger, der Abgeordnete für Koblenz. Der gleichfalls kahle Schädel leuchtet aus einem noch dunklen Haarkranz, wenn auch der feine, kurze Backenbart schon stark in’s Graue spielt. Denn Reichensperger ist kein Jüngling mehr; er zählt jetzt vierundsechszig Jahre. Aber er hat noch die elastische Fülle und Beweglichkeit des rüstigen Mannes, und eine gewisse Lebhaftigkeit des Charakters, durch eine glatte, elegante Form abgestimmt, äußert sich frei durch Zwiesprach mit dem Nachbar und Spiel der Mienen. Das große, breite Antlitz ist scharf markirt, die Nase stark und von edlem Schnitt, der Mund in begünstigter Ausbildung für einen Redner. Ein geistvolles Auge blitzt unter der hohen Stirn. In dem ganzen Antlitz liegt etwas Selbstbewußtes, Kühnes im Ausdruck des Sinnenden, und ein feiner ironischer Zug fährt oft darüber hin, ohne mißfällig zu wirken. Als Redner mahnt dieser Mann wohl an einen Professor, der zierlich seine Worte setzt, sein Thema völlig beherrscht und in salbungsvoller Breite den Vortrag durch Arabesken und Schnörkel zu verschönen sucht. Selten mit Glück. Die ebene Ruhe und die Harmonie seiner Reden wirken meist mehr ermüdend als anregend; die Gedanken darin blitzen nicht und umschlängeln in mattem Feuer ihr eigentliches Ziel. Es ist ein väterlicher, ein Patriarchenton darin, der versöhnlich stimmen soll, wenn eben die Geister in hellem Kampfe aufeinanderplatzen, und der deshalb wenig Wirkung macht.

August Reichensperger ist als der eigentliche Papst der katholischen Fraction zu bezeichnen; er ist ihr Vater. Der Katholicismus und die päpstliche Oberherrlichkeit sind von jeher die Grundsätze gewesen, nach denen er seine öffentliche Thätigkeit gerichtet hat. In Koblenz unter der dortigen Franzosenherrschaft geboren, in dem Hause eines Vaters erzogen, der französischer Beamter gewesen, wuchs er in dem Geiste auf, welcher in den Rheinlanden bis vor einem Vierteljahrhundert vorherrschend war und der in stetem Protest gegen die preußische Herrschaft sich gefiel. Der Streit mit dem Kölner Erzbischof bildete den Ausgangspunkt einer ultramontanen Propaganda am Rhein, die geschickt diese Antipathien gegen Preußen verwerthete. Reichensperger trat als eifriger Agitator auf diesen Boden. Ehrgeizig und mit Talenten ausgestattet, wollte er eine politische Rolle im Geiste des Katholicismus spielen. Als die Revolution von 1848 niedergeschlagen war, bot er der preußischen Reaction gleichsam die Unterstützung der katholischen Partei an, und man nahm in Berlin seinen Vorschlag mit Freuden auf. Kreuzritter und Römlinge schlossen damals ihre erste Allianz unter der Protection der österreichischen Reaction. In dem unglücklichen Parlament zu Erfurt 1850, wo die preußischen Unionspläne scheiterten, wurde die Gründung einer besondern katholischen Fraction von Reichensperger besorgt. Seitdem hat sie immer im preußischen Abgeordnetenhause existirt, als ein Zipfel der conservativen Partei betrachtet, der sich zuweilen auch um die Füße der liberalen schlug; als parlamentarisches Gebilde nur wichtig, weil die Stimmen dieser Gruppe häufig die Entscheidung bei den Abstimmungen bewirkten und deshalb wohl durch Unterhandlungen von dieser oder jener Partei gewonnen werden mußten.

Mit dieser parlamentarischen Thätigkeit im Sinne der römischen Tendenzen begnügte sich August Reichensperger aber keineswegs. Er wurde einer der bedeutendsten Führer der katholischen Propaganda überhaupt, half die katholischen Vereine organisiren und das Netz ihrer Agitationen über ganz Norddeutschland ausbreiten, was die preußische Regierung in dem Glauben begünstigte, daß solche kirchliche Disciplinirung und damit gesicherte Unwissenheit eines großen Theiles des Volkes dem Staatswohl ganz besonders dienlich sei – bis sie nun jetzt ihren Schaden besehen hat. Auch in christlich-germanischer Kunst machte Reichensperger sehr eifrig. Der Dombau zu Köln erhielt durch seine Anregungen in der Presse wie in Vereinen viel Förderung. Eine andere seiner Broschüren, „Fingerzeige auf dem Gebiete der christlichen Kunst“, gab den Geistlichen Anweisungen, ihnen übergebene Kunstschätze vor dem Verderben zu hüten. Eine größere Schrift behandelt „die christlich-germanische Baukunst und ihr Verhältniß zur Gegenwart“.

In treuer Waffengemeinschaft mit ihm auf parlamentarischem Gebiete seit dreiundzwanzig Jahren ist sein etwas jüngerer Bruder, der Geheime Obertribunalsrath Peter Reichensperger, jetzt Abgeordneter für den Wahlkreis Olpe. Im Wesentlichen übereinstimmend mit den Grundsätzen und Bestrebungen seines Bruders, hat sich Peter Reichensperger doch allen ultramontanen Agitationen öffentlich fern gehalten und jederzeit nur den Politiker herausgekehrt, welcher fest davon überzeugt ist, daß eine heilsame Staatspolitik mit den Interessen der katholischen Kirche nothwendig übereinstimmen müsse.

Ein Idealist von reinem Bewußtsein und naivem Glauben, betrachtet er den Katholicismus als ewige Wahrheit, welcher Lüge und Schlamm der Zeit in ihrem Kern nichts anhaben können. Ohne religiöser Schwärmer zu sein, liegt doch eine revolutionäre Leidenschaft in ihm, die ihn oft in die Opposition gegen den Staat getrieben und zu einem Apostel der Volksinteressen gemacht hat. Er ist ein gläubiger und besonnener Lamennais. In seiner Rede liegt die Kraft und selbst die Begeisterung der Ueberzeugung; er hat mehr als einmal, namentlich in früheren Jahren, die lauschende Kammer durch die Macht seiner Beredsamkeit, durch die Logik seiner Gedanken in tiefe Bewegung zu setzen vermocht und gilt deshalb nicht nur als der bedeutendste Kämpfer seiner Fraction, sondern mit Recht auch als einer der besten Redner des preußischen Parlamentarismus überhaupt. Schlank und groß von Figur, hat er sich eine jugendliche Anmuth des Wesens und der Bewegung bewahrt. Noch erscheint sein Haupthaar dunkel, voll und in kühner Locke liegt es auf der Stirn; aber der Bart an den Wangen und besonders am Kinn ist grau geworden, das schmale, lange Gesicht mit einem stark ausgebildeten Unterkiefer hat den Ausdruck des Energischen und der Offenheit; aus diesen Zügen spricht ein arbeitsvoller Geist, aus diesem Lächeln ein warm empfindendes Gemüth, aus diesen Augen, wenn sie nach müdem Aufschlag schnell sich beleben, leuchtet Feuer und selbst ein schöner dämonischer Rausch.

Wer möchte die Ueberzeugungen dieses Mannes verunglimpfen, wenn man sie auch mit anderen Ueberzeugungen bekämpft? Er schwingt sich auf die Tribüne, als wisse er, daß er den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_142.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)