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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

das vorzüglichste in jenem Staate gepriesen, und von der Colonie erzählte man mir nur Rühmendes. Ueber den Dr. Keil dagegen, den sogenannten „König von Aurora“, waren die sonderbarsten Gerüchte im Umlauf. Man hatte mir denselben in der Stadt Portland als einen ganz unnahbaren Charakter bezeichnet, der sich den Fremden gegenüber außerordentlich verschlossen zeige und Niemandem die geringsten Aufschlüsse über die innere Verwaltung seiner blühenden Colonie gebe, in der er wie ein souverainer Fürst das Regiment führe. Eingeweihte behaupteten, daß jener bedeutende Mann in Deutschland ein Schneider gewesen sei. Er wäre zugleich geistliches und weltliches Oberhaupt der Gemeinde, schlösse Ehen (stets mit Widerwillen, weil er nach den Regeln der[WS 1] Gesellschaft den Neuvermählten ein Wohnhaus anweisen müsse), wäre Arzt und Geburtshelfer, Prediger, Richter, Gesetzgeber, General-Oekonom, Verwalter, unumschränkter und unverantwortlicher Finanzminister der Colonie und hielte alle die sehr werthvollen Ländereien der Ansiedelung mit Zustimmung der Colonisten in seinem Namen; seinen freiwillig ihm gehorchenden Unterthanen, die ihn wie ihren Vater verehrten, verschaffe er allerdings einen guten Lebensunterhalt, behalte aber den ganzen Profit der Arbeit Aller und den Werth des gesammten Eigenthums für sich, trotzdem die Colonie als eine communistische Gemeinde auf breitester Grundlage angelegt sei.

Diesen originellen Mann, einen Geistesverwandten des berühmteren Mormonenpascha Brigham Young, wollte ich von Auge zu Auge sehen und den Löwen so zu sagen in seiner Höhle aufsuchen. Von der Stadt Portland aus, wo ich gerade verweilte, war die Colonie Aurora ohne besondere Schwierigkeit mit der Eisenbahn zu erreichen. An jenem Orte machte ich die Bekanntschaft eines deutschen Lebensversicherungs-Agenten einer Gesellschaft in Chicago, Namens Körner, der wie ich einen Besuch in Aurora machen wollte und in dem ich einen angenehmen Reisegesellschafter fand. Derselbe hatte sich in Portland Empfehlungsschreiben an den Dr. Keil verschafft und den kühnen Plan gefaßt, mit demselben ein „Geschäft im Lebensversichern“ zu machen; er wollte den Versuch wagen, ihn zu überreden, das Leben der ganzen Colonie, das heißt aller seiner freiwilligen Unterthanen, bei der Chicagoer Gesellschaft zu versichern, dafür als unverantwortlicher Schatzmeister der Colonie die gesetzmäßigen Prämien zu zahlen und bei Sterbefällen den Gewinn für seinen Nutzen einzucassiren.

Mein Reisegefährte hatte große Hoffnung, dem Doctor seinen Lebensversicherungsplan als eine vortheilhafte Speculation plausibel zu machen, und sich demzufolge mit den nöthigen Sterbetabellen etc. hinreichend versehen. Uns war in Portland eingeschärft worden, den früheren Schneider Keil, jetzigen „König von Aurora“, stets mit „Doctor“ anzureden, auf welchen Titel er sehr stolz sei, und ihm mit aller uns als souverainen Republikanern möglichen Ehrerbietung zu begegnen; sonst werde er uns gleich den Rücken zuwenden.

Am Morgen des 19. September brachte uns eine Dampffähre von Portland über den Willâmette-Fluß nach dem Bahnhofe der Oregon- und California-Eisenbahn, und bald darauf entführte uns der brausende Dampfzug gen Süden, entlang am rechten Ufer jenes Stromes von der Breite des Rheins, eines Nebenflusses des mächtigen Columbia. Nach einer angenehmen und interessanten Fahrt durch riesige Waldungen und über fruchtbare, hier und da mit Farmen und Ansiedelungen, Obstgärten etc. geschmückte größere und kleinere Prairien und Lichtungen erblickten wir das in romantischer Umgebung hart am Willâmette liegende Städtchen Oregon-City. Später verlassen wir den Fluß, donnern einige Meilen weit durch majestätischen Urwald und treten nun in eine weite waldumsäumte Prairie, in der sich hier und da schmucke Farmhäuser und zerstreute Holzungen zeigen; – und siehe! drüben winkt von schwellendem Hügel und inmitten einer von grünen Bäumen umgebenen wohlgehaltenen Ansiedelung der schlanke weiße Kirchthurm von Aurora herüber, und schon sind wir am Ziele unserer Reise.

Unser erster Weg, nachdem wir den Bahnzug verlassen hatten, war zu dem hart an der Eisenbahn auf einem Hügel erbauten Gasthause, wo sich die Passagiere zum „Lunch“ versammelten. Dieses, wie bereits erwähnt wurde, in ganz Oregon rühmlichst bekannte sogenannte Hôtel in „Dutchtown“ möchte ich mit einer Herberge alten Stils vergleichen. Die lange sauber gedeckte Eßtafel war mit schmackhaft zubereiteten, echt deutschen Gerichten übervoll besetzt, und sauber gekleidete schmucke deutsche Mägde warteten bei Tafel auf. Waren die Speisen nun allerdings nicht mit denen bei einer Mahlzeit im Clublocale des deutschen „San-Francisco-Vereins“ in San Francisco zu vergleichen, so muß ich doch gestehen, daß sie unbedingt das Beste boten, was ich noch in Oregon genossen hatte, in welchem Lande die Köche ihre Gerichte sonst nicht nach einem Hamburger Küchenzettel zuzubereiten pflegen.

Nach beendeter Mahlzeit erkundigten wir uns, wo wir den Doctor Keil finden könnten, dem wir unsere Aufwartung machen wollten. Der Wirth zeigte uns des Doctors Wohnhaus, das von fern wie das Gehöft eines wohlhabenden niederdeutschen Landmannes aussah. Ueber einen langen Bretterstieg schreitend, schlugen wir den Weg nach der uns angedeuteten Wohnung ein. Unterwegs begegneten uns mehrere Arbeiter, die soeben von den Feldern kamen und augenscheinlich ein zufriedenes Leben führten: Mägde mit aufgeschürzten Kleidern, den Rechen in der Hand, und Knechte, die ihre Thonpfeifen gemüthlich rauchten, riefen uns einen deutschen Gruß zu. Alles hatte hier einen deutschen Zuschnitt: die von Bäumen beschatteten freundlichen Wohnhäuser, die Scheunen, Stallungen und wohlgepflegten Aecker, die Blumen- und Gemüsegärten, der weiße Kirchthurm von einer auf einem grünen Hügel erbauten Kirche; nur die Fenzen um die Felder erinnerten daran, daß wir uns hier in Amerika befänden.

Des Doctors Wohnung war von einem hohen weißen Staket eingeschlossen; stattliche breitgeästete Lebenseichen beschatteten sein Haus und der geräumige Hof hatte ein sauberes, nettes Aussehen. Die Hähne krähten und die Hennen zogen mit den Küchlein fleißig körnerpickend hin und her, Gänse schnatterten und einige wohlerzogene Hunde begrüßten uns mit freudigem Gebell. Eine freundliche deutsche Matrone wies uns auf die Frage, wo wir den Doctor finden könnten, nach dem Obstgarten, wohin wir sofort unsere Spaziertour fortsetzten. Eine Pracht war dieser, dessen nach Tausenden zählende Bäume mit den herrlichsten Früchten dermaßen beladen waren, daß man die Zweige vielfach mit Stangen hatte stützen müssen, um ihr Niederbrechen unter der Last des Obstes zu verhindern.

Bald fanden wir den berühmten Doctor, den „König von Aurora“, in nichts weniger als fürstlichem Anzuge eifrig beim Aepfelpflücken beschäftigt. Er stand hoch oben auf einer Leiter in Hemdsärmeln, cattunener Schürze und Strohhut und pflückte das rothwangige Obst in einen Handkorb. Mehrere Arbeiter waren unter dem Baume beschäftigt, die gepflückten Aepfel auszulesen und die besten derselben, wahre Prachtexemplare dieses in Oregon zur Vollkommenheit gedeihenden Obstes, in Kisten sorgsam zu verpacken. Als der Doctor uns bemerkte, stieg er von der Leiter herab und fragte uns ziemlich barsch, was unser Geschäft sei. Mein Reisegenosse überreichte ihm die mitgebrachten Empfehlungsbriefe, welche der Doctor aufmerksam durchlas, und stellte ihm dann meine Wenigkeit als „californischen Literaten und Mitarbeiter der Gartenlaube“ vor, der eigens deshalb nach Oregon gekommen sei, um ihn, den Herrn Doctor Keil, zu besuchen und seine Colonie in Augenschein zu nehmen, von der wir Beide so viel Rühmendes gehört hätten. Ohne des Doctors Antwort abzuwarten, fragte ich ihn, ob er, der Doctor, vielleicht ein Verwandter des Herausgebers der „Gartenlaube“ sei. Eine gelegenere Frage hätte ich offenbar nicht stellen können, denn der Doctor schien durch dieselbe augenscheinlich erfreut und wurde gleich außerordentlich liebenswürdig gegen uns. Die Verwandtschaft, auf welche ich angespielt hatte, bedauerte er jedoch nicht beanspruchen zu können; ich erfuhr von ihm, daß er Wilhelm Keil heiße und aus Bleicherode in Westphalen[1] gebürtig sei. Das Aepfelpflücken überließ der Doctor jetzt seinen Arbeitern und erbot sich, uns das Sehenswürdigste in der Colonie zu zeigen; über das Lebensversicherungsproject werde er zu gelegener Zeit mit Herrn Körner Rücksprache nehmen.

Der Doctor, welcher sich von jetzt an sehr redselig zeigte, war eine recht angenehme Erscheinung, ein Mann, der seine Sechszig zählen mochte, mit weißem Haar, breiter hoher Stirn und intelligenten Gesichtszügen. Kerngesund, groß gewachsen, von

  1. Hier scheint ein Irrthum vorzuliegen, da es unseres Wissens nur ein Bleicherode ist der Nähe von Nordhausen giebt. Auf diese Weise wäre dann auch für den Herausgeber der Gartenlaube, dessen Familie in ganz Thüringen verbreitet ist, die Ehre einer Verwandtschaft, mit dem „Könige von Aurora“ nicht völlig ausgeschlossen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: d r
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_094.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)