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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

unterzeichnet ist. Wer diese mit kritischem Auge liest, der möchte aber wirklich die Schriftsteller der großen britischen Nation beneiden. Wie genau und gründlich müssen wir Deutsche sein, und mit welch vornehmer Leichtfertigkeit fahren unsere englischen Brüder über die wuchtigsten Gegenstände hin! – in welch ungewissen Umrissen scheint ihnen schon der Continent und der ehemalige Deutsche Bund zu liegen! Oder klingt es nicht fast komisch, wenn uns Herr Ball belehrt, die fürstliche Grafschaft Tirol liege im österreichischen Kreise und bestehe aus dem eigentlichen Tirol und den Fürstenthümern Trient und Brixen – lauter Behauptungen, welche einst alle sehr richtig gewesen, aber durch den Reichsdeputationsreceß von Anno drei ganz unhaltbar geworden sind? Ferner weiß Herr Ball, daß Tirol durch den Preßburger Frieden an Baiern, aber er weiß auch, daß es 1809 förmlich (formally) an Italien abgetreten worden sei. Dies jedoch nur in der Note, im Texte läßt Herr Ball die Tiroler nach Anno neun wieder französisch werden. Daß auch für die Geschichte des seligen Andreas Hofer (commonly called Sandhofer), dessen Cultus doch in England so enthusiastisch betrieben wurde, daß auch für seine Geschichte aus englischen Büchern nichts zu lernen ist, das möchte beispielsweise aus einer Stelle hervorgehen, welche Herr Ball aus Herrn Hall’s Life of Andrew Hofer citirt und welche behauptet: „Seinem Andenken ward auf dem Brenner ein einfaches Grabmal errichtet, in geringer Entfernung von seinem Wohnsitze (es wären doch leicht zwölf Stunden); es enthält keine andere Inschrift als seinen Namen und die Daten seiner Geburt und seines Todes.“ Wie aber, wenn es auch diese nicht enthielte, vielmehr gar nicht existirte? Meines Wissens wenigstens hat noch kein tirolischer Schriftsteller, auch kein Bädeker und kein Trautwein und Amthor, dieses Grabmal aufgefunden, und es scheint demnach nur englischen Augen sichtbar zu sein.

Nun also die biographische Einleitung.

In dieser nimmt Herr Ball einen ansehnlichen Schwung und sucht die Tiroler mit allen Farben der Poesie auf’s Einnehmendste zu schildern. „Sie ergießen,“ sagt er unter Anderm, „die fröhlichen Gefühle ihrer untadelhaften Gemüther in so wahrhaft hirtenmäßige Gesänge, daß selbst die größten Tonsetzer, wenn sie ländliche Art nachahmen wollten, sich nicht entblödet haben, die Saiten ihrer Harfen von den Tirolern zu entlehnen.“ Deswegen gebühre ihnen die Benennung Natursänger mit vollem Rechte. Am meisten verdiene aber die Familie der Rainer so genannt zu werden, denn diese bringe, selbst ohne die Noten zu kennen, so wirksame und harmonische Leistungen hervor, daß sie jeden Vergleich mit dem Kunstgesange auszuhalten vermöchten.

Endlich, nach einem längern Abstecher über Andreas Hofer, kommt die Geschichte, nach der ich so lange gefahndet – die Geschichte der ersten Ausfahrt, und diese erzählt richtig Herr Ball im Jahre 1827 zu London in der Hauptsache wie Fräulein Maria Rainer im Jahre 1871 zu Schwaz. „Im Jahre 1815,“ läßt übrigens Mr. Ball seine Tiroler sprechen, „als der Congreß zu Verona angesagt war“ (welchen aber andere Geschichtschreiber nicht unglaubwürdig in’s Jahr 1822 verlegen), „im Jahre 1815 also, als die Franzosen Tirol wieder verloren und wir unsere alten Freiheiten unter unserer geliebten österreichischen Regierung wieder zurückerhalten hatten, kam Kaiser Alexander von Rußland mit seinem alten Freunde, dem Kaiser Franz von Oesterreich, auf der Reise zur Fürstenversammlung in’s Zillerthal.“

Wir ersehen also daraus, daß jenen Abend nicht allein Kaiser Alexander von Rußland, sondern auch Kaiser Franz von Oesterreich in Fügen zubrachte. Der übrige Theil der Erzählung verläuft aber, wie gesagt, wie der Bericht, den wir schon früher gegeben, und es ist daher überflüssig, die englische Version hier vorzutragen.

Diese neue Bekanntschaft mit dem Selbstherrscher aller Reußen scheint nun wirklich der Anlaß gewesen zu sein, der die Rainer in die weite Welt führte. Im Herbste 1824 griffen sie nämlich zum Wanderstabe, um ihren hohen Gönner in St. Petersburg zu besuchen. Herr Ball, der den Congreß von Verona in’s Jahr 1815 setzt, läßt sie neun Jahre lang über ihr Vorhaben nachdenken, während doch die Deliberationsfrist, wie männiglich sieht, nur eine zweijährige war. Sie wanderten also zu Fuß durch Baierland, Mittags und Abends in den Wirthshäusern singend, bis sie nach Regensburg kamen. Unsere alte Stadt Freising, welche, wie wir gesehen, Josef Rainer als den Hafen bezeichnete, von dem sie ausgelaufen, wird in Herrn Ball’s Berichte nicht erwähnt. In Regensburg nahm sie der Fürst von Thurn und Taxis sehr freundlich auf. Sie fanden daher den Aufenthalt daselbst so annehmlich, daß sie vierzehn Tage blieben. Eigentlich meinten sie selbst noch immer auf der Reise nach Rußland zu sein, allein die Bangigkeit vor dem weiten Wege und dem fremden Volke und die Furcht, der Kaiser möchte sie vergessen haben, drückte so schwer auf ihr Gemüth, daß sie oft ganz traurig und verzweifelnd beisammen saßen. Alle Fünf sehnten sich wieder nach Hause, aber keines wollte mit diesem Geständniß den Anfang machen. Der Fürst Taxis gewahrte ihre Niedergeschlagenheit und sagte ihnen tröstend, aller Anfang sei schwer, und sie würden gewiß noch viel Glück erleben – ein Zuspruch, der sie wieder merklich aufrichtete. Da es ihnen nun in Deutschland heraußen bis dahin recht gut gefallen hatte, so verloren sie allmählich ihr Heimweh, aber die Reise nach Petersburg gaben sie für dieses Mal dennoch auf und gingen dafür über Nürnberg, Würzburg, Frankfurt, überall Beifall erntend, nach Mannheim, wo ihnen die Ehre zu Theil wurde, vor der Großherzogin Stephanie singen zu dürfen. Diese empfahl sie an ihre Schwiegermutter, die alte Markgräfin von Baden, in Karlsruhe, die sie ihrer Tochter, der Königin von Schweden, vorstellte, welche damals eben bei ihr auf Besuch war; die Königin von Schweden aber empfahl sie wieder an den König von Baiern, Maximilian den Ersten. Und in Karlsruhe geschah es, daß sie vom Großherzog zu ihrer großen Ueberraschung aufgefordert wurden, öffentlich im Theater zu singen.

„Wir können,“ läßt sie Herr Ball nun sprechen, „unsere Gefühle, als wir damals im Hoftheater sangen, nicht beschreiben. Es war unser erstes Auftreten auf einer Bühne. Das Haus war überfüllt und alle die vornehmen Personen des Hofes saßen in den Logen dicht vor uns. In unserer Angst setzten wir etwas zu hoch ein, aber doch kamen wir ganz leidlich durch, und am Schlusse wurden wir nicht allein von dem ganzen Hause, dem der Großherzog mit gutem Beispiel voranging, beklatscht, sondern mußten das Stück sogar wiederholen. Unsere Befangenheit war damit überwunden, und wir sangen die folgenden Lieder mit einer Sicherheit, als wenn wir seit Jahren an die Bühne gewöhnt wären.“




(Schluß folgt.)


Ein Besuch beim Könige von Aurora.
Von Theodor Kirchhoff.


An der Oregon- und California-Eisenbahn, achtundzwanzig englische Meilen südlich von der Stadt Portland in Oregon, liegt die deutsche Colonie Aurora, eine communistische Gemeinde unter der Leitung des Dr. Wilhelm Keil.

Im September 1871 machte ich wieder eine Reise von San Francisco nach Oregon, wo ich diesmal Zeit und Gelegenheit fand, einen schon lange von mir gehegten Wunsch verwirklicht zu sehen, – den, jene in ganz Oregon berühmt gewordene Colonie und den noch berühmteren Dr. Keil, den sogenannten König von Aurora, persönlich kennen zu lernen. Schon oft hatte ich in früheren Jahren während meines Aufenthaltes in Oregon und wiederholt auf meiner letzten Reise von dieser Colonie und ihrem Autokraten reden hören und die unglaublichsten Dinge über die Regierungsweise jenes selbstgeschaffenen Potentaten vernommen. Alle Berichte stimmten darin überein, daß Dutchtown (mit diesem Namen pflegen die Amerikaner allgemein jede deutsche Colonie zu bezeichnen) ein Muster von einem Gemeinwesen sei, das sich vor allen anderen in Oregon durch Ordnung und Wohlstand auszeichne. Das Gasthaus von „Dutchtown“, welches früher an der Ueberland-Stagelinie lag und jetzt ein Stationshaus an der Oregon- und California-Eisenbahn ist, hat in Oregon einen beneidenswerthen Ruf erlangt und wird von allen Reisenden als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_093.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2018)