Seite:Die Gartenlaube (1872) 086.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Stande war, Lucie noch mehr zu erbittern, so that es dies eisige Schweigen, denn sie fühlte ganz richtig heraus, daß eine Verurtheilung darin lag. Sie ging ja hier gerade wie eine Verbrecherin, die man nicht einmal mehr des Wortes würdigt, und doch war sie die Gekränkte, Beleidigte. Ihr Herz war zum Zerspringen voll von einer Bitterkeit, die sich jetzt zum Theil auch gegen den Grafen richtete. Warum ließ er sie so ohne Weiteres in der Gewalt dieses entsetzlichen Menschen, warum behauptete er nicht unter allen Umständen seinen Ritterdienst bei ihr? Er mußte es ja doch sehen, daß sie nur halb gezwungen folgte, und er stand doch sicher nicht unter jenem lähmenden Einflusse, dem sie fast willenlos sich beugte. Dem jungen Mädchen waren die Thränen nahe, es bedurfte nur noch eines einzigen Anstoßes, und sie brachen hervor.

Da endlich lag der Ausgang des Waldes vor ihnen, hier begann bereits das Gebiet von Dobra, von drüben schimmerte das Dach des Schlosses hinüber, und auf dem Felde waren eine Menge von Arbeitern beschäftigt; Benedict blieb stehen.

„Ich habe Sie, wie es scheint, sehr gegen Ihren Willen jener Gesellschaft entzogen, mein Fräulein. Sie werden den Eingriff wohl auch ‚unerhört‘ finden, ich habe ihn mir nichtsdestoweniger nun einmal erlaubt, und ich erlaube mir sogar noch eine Warnung, auf die Gefahr hin, daß Sie diese ebenso sehr verachten wie den – Mönch, aus dessen Munde sie kommt. Meiden Sie künftig dergleichen Verabredungen, Graf Rhaneck ist nicht der Mann, an dessen Seite der Ruf eines jungen Mädchens vor Verleumdungen sicher ist, selbst wenn sie es verstehen sollte, ihn in Schranken zu halten. Sie handelten sehr unvorsichtig, als Sie ihm diese Zusammenkunft bewilligten.“

Er stand mit der ganzen Strenge eines Richters vor ihr, das war zu viel und Lucie fuhr empört auf.

„Eine Zusammenkunft bewilligen? Habe ich etwa den Grafen nach dem Walde gerufen?“

„Wollen Sie mich vielleicht glauben machen, daß sein Erscheinen Ihnen unerwartet war?“ Es grollte dumpf und drohend in seiner Stimme, und seine Augen hefteten sich wieder so durchbohrend wie vorhin auf sie, aber jetzt hatten sie ihre Macht verloren, das Gefühl einer unverdienten Kränkung überwog bei Lucie jede Furcht, heiß und ungestüm brachen ihre Thränen hervor, mit ihnen aber auch der Zorn.

„Ich will Sie gar nichts glauben machen!“ rief sie in vollster Heftigkeit, „aber ich lasse mich auch nicht von Ihnen beleidigen, wie Graf Rhaneck es sich gefallen läßt. Ich will nicht!“ – sie stampfte zornig mit dem Fuße – „und solche ungerechte Vorwürfe ertrage ich nicht, nie, niemals –“

Das Weitere erstickte in ihrem Schluchzen, Benedict sah sie starr an.

„Nicht?“ wiederholte er langsam. „Sie haben den Grafen nicht erwartet?“

Lucie gab keine Antwort, sie weinte leidenschaftlich, aber es lag eine überzeugende Gewalt in diesem so plötzlich hervorbrechenden Trotze. Er trat ihr mit einer stürmischen Bewegung näher und faßte ihre beiden Hände, trotz ihrer eigenen Erregung sah sie doch, daß er sich in einer noch furchtbareren befand. Die Hände, welche die ihrigen festhielten, bebten, sein Blick senkte sich flammend tief in ihr Auge, und seine Stimme klang dumpf, gepreßt, als fehle ihm der Athem.

„Antworten Sie mir, Lucie! Bei Allem, was Ihnen heilig ist – Sie haben den Grafen nicht erwartet?“

„Nein!“ rief Lucie, außer sich gebracht durch dies Examen, und in diesem Moment war es wieder einmal Bernhard’s Schwester, die über das Kind siegte, so energisch und leidenschaftlich schleuderte sie ihm das Nein entgegen.

Ein tiefer, tiefer Athemzug hob Benedict’s Brust und ein schnelles blitzähnliches Aufleuchten flog über seine Züge; er ließ ihre Hände los und trat zurück.

„So bitte ich um Verzeihung!“ sagte er leise.

Lucie hielt plötzlich mit Weinen inne, ebenso sehr über diese ganz unerwartete Wendung, wie über den Ton seiner Stimme betroffen, die auf einmal von der rauhesten Härte zur vollsten Weichheit umschlug. Halb bestürzt blickte sie ihn mit den großen thränenvollen Augen an. Sein Blick hing jetzt wieder fest an diesen Augen; aber er machte keinen Versuch, sich ihr auf’s Neue zu nahen; im Gegentheil, es schien, als wolle er noch weiter zurückweichen.

„Ich habe Ihnen wehe gethan mit meinem Verdachte, ich sehe es! Aber ich hatte allen Grund dazu. Graf Rhaneck hat Ihnen schon einmal von Liebe gesprochen, und Sie wiesen ihn nicht zurück!“ – Lucie machte unwillkürlich eine Bewegung des Schreckens. War denn dieser Mann allwissend? – „Aber was Sie Liebe nennen, kann der Graf nicht mehr empfinden, wenn er es überhaupt jemals empfunden hat. Er ist einer reinen Zuneigung nicht werth. Glauben Sie mir das, mein Fräulein, und gestatten Sie ihm keine weitere Annäherung; ich warne Sie davor, ich – ich bitte Sie darum!“

Er sprach noch leise, aber in einem eigenthümlichen erschütternden Tone, der die innere mühsam gebändigte Bewegung verrieth. Es war dieselbe Warnung, die Lucie vorgestern aus dem Munde des Bruders gehört; aber wenn Bernhard’s herrisches Verbot ihren ganzen Trotz wach rief, dies hier wirkte anders. Das „Ich bitte Sie darum!“, das fast unhörbar an ihrem Ohre hinwehte, weckte wieder jenen schmerzenden Stich, der ihr bis in’s innerste Herz drang; sie wußte nicht weshalb und woher, sie fühlte nur, daß es wehe that.

Das junge Mädchen senkte lautlos den Kopf und trocknete sich die Thränen ab. Sie gab keine Antwort, gab auch kein Versprechen; aber man sah es, die heutige Warnung war tiefer gegangen als jene erste. Stumm wendete sie sich zum Gehen. Benedict machte eine Bewegung, es sah fast aus, als wolle er ihr nachstürzen, aber plötzlich schlug er krampfhaft den Arm um den Stamm des Baumes, an dem er stand, und blieb unbeweglich in dieser Stellung. Lucie wandte sich noch einmal um, wie mit einem halben Gruße; es schien, als erwarte sie noch ein Abschiedswort oder ein Lebewohl, aber nichts dergleichen kam von den festgeschlossenen Lippen des jungen Priesters, nur sein Blick folgte ihr, als sie über den Abhang schritt und durch die Felder eilte, folgte ihr so lange, bis die helle Gestalt zwischen den Gebüschen verschwand, welche dort hinten die Wiese säumten.

Da tönten Schritte hinter ihm, und aufblickend gewahrte Benedict den Grafen, der jetzt gleichfalls aus dem Walde hervortrat. Ob er ihnen in einiger Entfernung gefolgt war oder ob er sich nur auf dem Rückwege nach Rhaneck befand, dessen Gebiet hier das von Dobra berührte, blieb unentschieden; jedenfalls sah er den jungen Geistlichen und näherte sich ihm rasch.

Benedict schien der nun unvermeidlich folgenden Erklärung sehr gelassen entgegenzusehen; er lehnte sich an den Baum und erwartete ruhig den Kommenden. Ein halb verächtlicher Ausdruck lag dabei auf seinem Gesichte; aber der Angriff sollte mit einer Waffe geführt werden, an die er nicht gedacht.

Ottfried trat ihm keineswegs in hellem Zorn entgegen; im Gegentheil, sein Gesicht war wieder vollkommen glatt und ruhig; aber ein boshaftes Lächeln spielte um seine Lippen und mit einem unverkennbaren Hohne begann er:

„Erlauben Sie mir, Hochwürden, Ihnen etwas zurückzustellen, was Sie im Eifer Ihrer Beschützerrolle ganz und gar vergessen zu haben scheinen. Das Werk hier ist doch wohl Ihr Eigenthum, oder ziehen Sie es vor, zu behaupten, daß Fräulein Günther sich auf ihrem Waldspaziergange mit Spinoza beschäftigt hat?“

Der Stich traf doch. Benedict erbleichte einen Moment lang und ein heftiger Blick glitt über den verrätherischen Band, den Ottfried in Händen hielt; aber er faßte sich sofort wieder.

„Das Buch gehört mir!“ sagte er ruhig, die Hand danach ausstreckend.

Ottfried jedoch schien die Herausgabe vorläufig noch weigern zu wollen.

„Ein höchst interessantes Studium ohne Zweifel!“ fuhr er boshaft fort. „Nur ist die Beschäftigung damit, so viel ich weiß, im Kloster auf’s Strengste verboten und mit den schwersten Bannstrafen belegt; oder sollte ich mich irren? Vielleicht können Sie mir darüber Auskunft geben, Hochwürden.“

Zu der Verachtung in Benedict’s Antlitz gesellte sich jetzt ein leiser Zug von Ironie, als er entgegnete: „Sie haben vollkommen Recht, Herr Graf. Sie sehen, ich lese das Buch auch nicht im Kloster; ich nehme es mit mir in den Wald hinaus. Uebrigens steht es Ihnen frei, bei dem Herrn Prälaten den Angeber zu machen, wenn Sie sich sonst mit diesem ritterlichen Geschäft befassen wollen.“

„Herr Pater, ich verbitte mir dergleichen beleidigende Aeußerungen!“ sagte der Graf in hohem Tone.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_086.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)