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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

nach Pont-à-Mousson in das Casernenlazareth, bekleidet mit einem preußischen Waffenrock und französischen rothen Hosen, aber ohne Blechmarke und sonstige Kennzeichen.

Aber selbst aus dem Lazareth, nachdem sein Nationale vorschriftsmäßig aufgenommen war, konnte N. N. spurlos verschwinden. – Alle Kranken und Verwundeten hatten nämlich eine unbezähmbare Sehnsucht, wieder nach Deutschland zu kommen, und suchten deshalb zunächst auf die Evacuandenliste zu kommen; hatte der Arzt dies abgeschlagen, so wurden von N. N. allerlei Listen angewendet, um heimlich mit fortzukommen. Gerade solche, vom Arzte für nicht transportfähig erklärte Patienten konnten dann leicht den Strapazen der Reise erliegen, und da N. N. keine Papiere etc. bei sich hatte, auch in der Liste des Transportes nicht aufgeführt war, so konnte seine Identität mit dem aus dem Lazareth H. H. verschwundenen N. N. nicht constatirt, selbst nicht einmal vermuthet werden.

In weit größerer Zahl sind übrigens Reconvalescenten in anderer, weniger bedauerlicher Weise verschwunden. Aus den Krankentransporten, die von Weißenburg nach irgend einem Reservelazareth im Innern Deutschlands geschickt wurden, verschwanden nämlich häufig einzelne Reconvalescenten, und zwar solche, deren Heimath in der Nähe ihrer Reiseroute lag. – Wer verargt es ihnen, daß sie am liebsten ‚zu Hause‘ ihre Wiederherstellung abwarten wollten?“

Der Wege, ein Vermißter zu werden, sind eben zu viel. So erzählten schon im October 1870 die Zeitungen von „seltsamen Leidensgeschichten“, denen preußische Soldaten ausgesetzt gewesen. Sie waren verwundet in Gefangenschaft gerathen, wurden in den Lazarethen sorgsam und sogar liebevoll behandelt, aber, da sie nun als geheilt entlassen werden sollten, fehlten ihre sämmtlichen Kleider und Habseligkeiten. Man steckte sie in alte Civilkleider und stieß sie ohne Geld und Führer in die feindselige französische Welt hinaus. Gehetzt vom Volkshaß und von der Noth, gelangten sie endlich bis an die deutschen Linien, aber nicht Alle, und die das Leben dabei eingebüßt haben, vermehren die Zahl der Vermißten.

Zu großem Danke sind wir dem Münchener Central-Comité des „baierischen Vereins zur Pflege und Unterstützung im Felde verwundeter und erkrankter Krieger“ verpflichtet, das außer den Beiträgen zu der in nächster Nummer folgenden Auskunft uns noch mit nachstehenden Notizen versah:

„Im Schlosse zu Bazeilles starben dreizehn Baiern, deren Namen nicht eruirt werden konnten; außerdem fanden sich dort Leichen unter den Schwerkranken liegend vor, so, wie sie gestorben waren. – Professor Dr. Folwarczny schließt einen Bericht aus Bouillon vom 27. September v. J. mit den Worten: ‚Nachlässigkeit in der Krankenzettelführung, theils auch bewußtloser Zustand der Angekommenen sind Ursache der so ungenauen Bezeichnung der Verstorbenen.‘ Das königlich bairische 12. Infanterie-Regiment setzte einer vom Grafen v. Drechsel gefertigten Gräberliste die ergänzende Bemerkung bei: ‚Fünfundzwanzig Mann, einschließlich vom 1. Jägerbataillon, 1. und 2. Bataillon des 12. Infanterie-Regiments und 107. Infanterie-Regiments (Sachsen) – liegen auf der Höhe östlich des Parkes von La Morcelle.‘“

Ein jetzt in Wien lebender Kanonier der 6. leichten Garde-Batterie sendet uns die Notiz:

„Nach der Schlacht von Sedan lag ich vom 13. September 1870 ungefähr vier Wochen hindurch in einem französischen Hospital, Hôtel Dieu, in Château-porcien bei der Stadt Rethel, und mit mir viele Cameraden. Von Letzteren sind dort mehrere gestorben und begraben worden, die theils dem Typhus, theils auch ihren Wunden erlagen. Wenn ich auch die Leute nicht namhaft machen kann, so weiß ich doch mit großer Bestimmtheit zu sagen, daß der dortige Arzt – ein sehr humaner Mann – ein genaues Namensregister jedes seiner Kranken führte.“

Viele Zuschriften und Zeitungsausschnitte behandelten in allerlei Ausführung und Ausschmückung die Geschichte von den deutschen Kriegsgefangenen in Algier. Auch der Kriegsminister Graf Roon hat diesem Gegenstand den ausführlichsten Theil seiner Rede gewidmet und die vollständige Erfindung der ganzen Algierer Kriegsgefangenschaft nach den Berichten seiner Agenten in den französischen Seehäfen nachzuweisen gesucht. Wir legen daher unser desfallsiges Material vor der Hand bei Seite, müssen es aber trotz alledem bedauern, daß der auch in der Presse (im October vorigen Jahres) besprochene Plan des Herrn Eduard Filchner, Ritters des eisernen Kreuzes und bairischen Militärverdienstordens, in München, nicht zur Ausführung gekommen ist. Derselbe war, wie er uns schreibt, entschlossen: „auf eigene Kosten die Süddepots deutscher Gefangenen in Frankreich bis Algier zu bereisen, um an Ort und Stelle die Erhebungen zu pflegen.“ Er verlangte dazu vom Staate nichts, als daß dem Unternehmen ein öffentlicher Charakter verliehen und namentlich von Thiers ein Schriftstück erwirkt werde, kraft dessen die Maires und Präfecten angewiesen würden, ihm bei seinem Vorhaben möglichst förderlich zu sein. Das bairische Kriegsministerium kam dem Unternehmen mit größter Bereitwilligkeit zur Unterstützung desselben entgegen; dagegen erhoben sich Bedenken auf dem diplomatischen Gebiet, und so ist das Ganze ein Wunsch geblieben. Es ist einem deutschen Mann nicht verstattet, an Ort und Stelle nach unsern Vermißten zu sehen, dagegen reist eine französische Frau, ausgerüstet mit Empfehlungen des Generals v. Treskow, in Deutschland von einer Festung und Strafanstalt zur andern, um die französischen Kriegsgefangenen zu besuchen und ihnen Trost und Hülfe zu bringen. Diese ganz löbliche Rücksicht beobachtet man in dem geordneten Deutschland für wenige gefangene Franzosen, während man dieselbe Rücksicht den Tausenden deutscher Vermißter gegenüber in der liederlichen Wirthschaft Frankreichs versagt, jenes Landes, wo der Haß gegen Alles, was deutsch ist, sogar öffentliche Richter zur Freisprechung geständiger Mörder verführt und die Lüge eine so unerhörte Herrschaft gewonnen hat, daß auch sie gegen den Feind als patriotische Tugend gilt. Wo ist’s nothwendiger, als da, nicht blos französischen Zusicherungen zu glauben, sondern mit eigenen Augen zu sehen? Und wenn wir nichts als Todtenscheine dort zu erwerben vermöchten, so ist doch jeder neue Todtenschein die Beruhigung eines deutschen Hauses oder Herzens, und der Preis sollte nicht so gering erscheinen.


(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Noch einmal Maus und Canarienvogel. Nummer 1 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ enthält unter „Blätter und Blüthen“ eine mit der Ueberschrift „Eine Maus im Canarienvogelbauer – gewiß ein seltener Gast!“ bezeichnete Mittheilung. Dem Einsender der letzteren sowohl, als auch anderen Lesern der „Gartenlaube“, welche der bereits in verschiedenen Jahrgängen derselben gestellten Frage „Instinct oder Ueberlegung?“ und den daran geknüpften Mittheilungen aus dem Thierleben mit Interesse gefolgt sind, dürfte eine Mittheilung über Beobachtungen, an einem andern Orte über Maus und Canarienvogel angestellt, vielleicht nicht unwillkommen sein.

Daß die Mäuse die Futterbehälter der Stubenvögel, vorzugsweise diejenigen, welche Hanfsamen enthalten, besuchen, ist da, wo Mäuse und Vögel sich gleichzeitig vorfinden und die Mangelhaftigkeit des Fußbodens oder der Wände das Eindringen der ersteren in ein Zimmer gestattet, durchaus keine Seltenheit, vielmehr eine tägliche Erscheinung. Die Art und Weise, wie die kleinen Näscher ihre Raubzüge nach hoch im Zimmer hängenden Vogelbauern auszuführen im Stande sind, sowie das Maß von Klugheit und Geschicklichkeit, welches sie dabei entwickeln, ist jedenfalls der Beobachtung werth. An Fenstervorhängen, Topfgewächsen, Schnüren und Kleidungsstücken, in Spalten und engen Zwischenräumen, hinter Tapeten, Schränken, Spiegeln und anderen Gegenständen weiß die Maus mit einer bemerkenswerthen und auffallenden Gewandtheit und Kunstfertigkeit zu den Käfigen der Canarienvögel zu gelangen. Wo man ihr eifrig nachstellt, wird in der Regel nur die Nacht, bei starkem Appetit wohl auch die Dämmerungsstunde benutzt, um sich an der Kost des Vogels gütlich zu thun. Ist die Maus dagegen in Folge besonderer Umstände zu einer gewissen Dreistigkeit gelangt, so stellt sie sich nicht nur bei Kerzen- oder Lampenschein, sondern auch mitten am Tage als Kostgängerin des Vogels ein.

In einer unmittelbar über dem Fußboden entstandenen Mauerspalte eines Zimmers, welches ich als lediger Mann mehrere Jahre hindurch bewohnte, bemerkte ich eines Tages eine Maus, die mich unverwandt mit ihren Blicken verfolgte. Um mich zu überzeugen, ob das winzige Thier den Muth haben würde, in’s Zimmer zu dringen, zog ich mich in den Hintergrund desselben nach einer Ofenecke zurück. Nachdem ich hier einige Secunden regungslos gesessen hatte, wagte sich dasselbe wirklich hervor, eilte auf dem Fußboden längs der Wand dem Fenster zu, erwischte ein Hanfsamenkörnlein, welches aus dem Vogelbauer über dem Fenster herabgefallen war, und eilte schnell damit nach seinem Versteck. Später geschah dasselbe fast täglich, wobei das kleine Geschöpf eine immer größere Dreistigkeit an den Tag legte. Ging ich in der Stube auf und ab, so getraute es sich nicht aus der Mauerspalte hervorzukommen; kaum hatte ich aber am Schreibtische oder sonst irgendwo Platz genommen und eine ruhige Haltung bewahrt, so sprang das possirliche Wesen schnell in’s Zimmer und lief nicht mehr, wie das erste Mal, mit einem Körnlein davon, sondern ließ sich sämmtliche herabgefallene Hanfkörner neben dem Fenster wohlschmecken.

Da ich bestimmt wußte, daß während der Nacht auch das Vogelbauer von Mäusen besucht wurde, so war ich begierig zu wissen, ob sich vielleicht in meiner Abwesenheit diese Maus auch am Tage dazu verstehen würde, nach demselben hinaufzuklettern. Ob mein Canarienvogel, welcher beiläufig gesagt bei der Annäherung eines Menschen eine ganz besondere Courage bewies und furchtlos auf einen durch’s Drahtgitter seines Käfigs gesteckten Finger mit seinem Schnabel loshackte, sich den Besuch eines kleinen Mäuschens

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_083.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)