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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

nur irgendwie ein idealer Jüngling, so wäre mir für ihn auch der Gedankengang noch plausibel: die Freiheit, die er meinte und die sein Herz erfüllte, könne ihm nur von oben winken.

Ich habe dieses einen Tages Beobachtung so genau zu schildern versucht, weil sie alle meine sonstigen zahlreichen Studien über den Oehrling gleichsam zusammenfaßte und bestätigte. Im Anschluß an Taschenberg’s Darstellung füge ich noch bei, daß der Ohrwurm Fleischnahrung nicht blos nicht verschmäht, sondern ebenso gern acceptirt wie Pflanzenkost. Habe ich ihn doch mit Fleisch vom Eßtisch gefüttert! So viel er also auch den Früchten schadet: durch Vertilgung unzähliger Insecten und animalischer Stoffe stiftet er doch auch einigen Nutzen. Ob sie endlich „nächtliche Thiere“ sind, die Oehrlinge – was Taschenberg bezweifelte, möchte ich weder unbedingt verneinen noch bejahen, sondern sie als „Amphibien“ des Lichts und der Finsterniß bezeichnen. Das ist zwar kein Fachname, aber ich glaube, er paßt auf sehr viele Wesen, die bei Nacht wie bei Tage ihren Trieben und Bedürfnissen nachgehen. Und auch in dieser Beziehung würde ja die Analogie mit dem Fuchse richtig und das Epitheton passend sein: „Reinecke unter den Insecten“.





Ich sah noch nie ein Augenpaar.

Ich sah noch nie ein Augenpaar
Wie dein’s, mein Kind, so hell und klar,
So ungetrübt von jedem Weh,
So unergründlich wie die See.

So still auch wie die blaue Fluth,
Die schlummernd dir zu Füßen ruht
Und nur sich leise rauschend regt,
Wenn träumend sie der Wind bewegt,

Das ist noch immer Frühlingswind!
Er weht so lau, er weht so lind,
Doch kommt der Herbst, so schwillt er an
Und wird zum Sturme, zum Orcan.

Die See wird schwarz, die See wird wild,
Des wüsten Lebens treues Bild,
Und wühlt empor, was abgrundtief
In sanfter Ruhe lag und schlief.

Zumeist auch ist es schwarz und wild,
Was aus der Tiefe aufwärts quillt,
Nur selten wirft der Wogen Braus
Muscheln mit blanken Perlen aus. –

O liebes Kind, dein Augenpaar
Schwebt täglich, stündlich in Gefahr;
O wahre seine stille Pracht,
Der Sturm ist da, eh’ du’s gedacht!

Helgoland. Harbert Harberts.




Im Palais des Kaisers.


Unsere Leser haben in mancherlei Bildern des letzten Krieges den deutschen Kaiser kennen lernen, Befehle gebend und Siegesbotschaften empfangend. Da nur Wenige derselben in das Hofleben und seine Gewohnheiten eingeweiht sein dürften, so wird es sie sicher interessiren, ihn auch im Familienkreise zu sehen, sich von den Regierungssorgen erholend und umgeben von den Segnungen des Friedens und der Künste.

Am besten dürfte sich zu diesem Zwecke die Darstellung einer jener musikalisch-dramatischen Soiréen eignen, wie sie am Berliner Hofe üblich sind, und unser heutiges Tableau giebt uns die ziemlich klare Anschauung einer solchen. Man geht da aber nicht ganz ohne Ansehen der Person hinein, wie etwa in das Concerthaus der Gebrüder Medding zu den berühmten Musikaufführungen des Herrn Bilse. Hier sagt der Oberst und Hofmarschall des Königs, Graf v. Perponcher-Sedlnitzki erst: „Viele sind berufen, aber Wenige auserwählet.“ Dieser wichtige Kronbeamte hat zunächst Sorge zu tragen, daß bei derartigen Festlichkeiten an der auf’s Minutiöseste vorgeschriebenen Hofetiquette keines Sonnenstäubchens Gewicht verloren gehe. Zunächst erhält der Herr Marschall die Liste der zur „Cour“ Geladenen und Befohlenen aus des Königs eigenen Händen. Mit dieser Liste macht sich einer der Hoffouriere auf die Reise, und jedem Auserwählten mündlich mitzutheilen, daß er für den und den Abend bei Hofe erwartet werde. Geladen werden zunächst die Mitglieder der Königsfamilie und die gerade anwesenden Fürstlichkeiten, befohlen sodann die Botschafter verschiedener Großmächte, die Minister, Staatssecretäre, Baron v. Rhaden, Hofrath Borck, Herr v. Hülsen und was sich sonst noch „courfähig“ zu nennen berechtigt ist.

Die Leitung des musikalischen Theiles der Soirée liegt in den Händen des königlichen Obercapellmeisters und Hofpianisten Herrn W. Taubert, und das streng kritische Auge des General-Intendanten der königlichen Schauspiele schwebt beobachtend und ordnend über dem Ganzen. Zur Ausführung des gesanglichen Theils werden natürlich die ersten Opernkräfte, soweit sie disponibel und disponirt sind, von Seiner Majestät befohlen. Es entfalten bei Hofe ihre Talente am häufigsten: Frau Harriers-Wippern, Frau Mallinger, Frau von Voggenhuber und Frau Lucca. Von den Herren der Kunst gehen durch das goldene Palastthor: Albert Niemann, Womorsky, Betz und Tenorist Krüger, auch genannt „Heinrich der Dicke“. Das recitirende und declamirende Element ist ebenfalls bestens vertreten; nur Hermann Hendrich’s markiger und edler Vortrag wird dabei von Vielen schmerzlich vermißt. Zur Belebung des Programms werden dann und wann auch fremde Virtuosen zugelassen. Selbst mittelmäßige Talente haben bei solchen Soiréen nichts zu fürchten, denn Zeichen des Mißfallens dürfen nicht laut werden, und Gustav Engel, zur Zeit der gefürchtetste Musikkritiker der Kaiserstadt, wird zu Hoffesten als Recensent nicht „befohlen“. Das Concert beginnt präcis zehn Uhr. Erst kommen einige introducirende Tonstücke zum Vortrag, dann lassen sich die übrigen Künstler in programmatisch vorgeschriebener Reihenfolge hören. Den Glanzpunkt bei solchen Soiréen bildete zur Zeit, als dieser Artikel entstand, gewöhnlich Frau Lucca. Mit der mußte man aber, und muß man auch heute noch subtil umgehen, denn ihr Kehlkopf war und ist, außer der Gastspielzeit, äußerst empfindlich, und den „Mandelschneider von Tübingen“ möchte sie doch wohl nur im äußersten Falle zum zweiten Male consultiren. Unser heutiges Bild ist nach einer zu diesem Zweck aufgenommenen Photographie hergestellt, also – wie wir zur Beruhigung unserer Leserinnen hervorheben wollen – bis in das kleinste Detail wahrheitsgetreu.

Frau Lucca bewahrt übrigens auch in der schwächlichen Naturen sonst bekanntlich sehr gefährlichen Hofluft ihr originelles Wesen und hat dies wiederholt bewiesen. So nahte ihr einmal der Hofmarschall mit der Mittheilung, daß der König ihr Erscheinen bei Allerhöchstihm befohlen habe. Seiner Majestät Kammersängerin erwiderte mit schalkhaftem Lächeln: „Herren kommen eigentlich zu mir.“ Der König, der in der Nähe stand und diese Worte hörte, lachte herzlich, ging zur Lucca und machte ihr ein recht artiges Compliment.

Frau Lucca singt verschiedene ihr vorgeschriebene Lieblingsnummern des Königs und der Königin, nur nichts von Richard Wagner. Ein Paragraph in ihrem Contract entbindet die Sängerin ausdrücklich von jeder Mitwirkung in Opern von Wagner, und wie tief bei ihr die Abneigung gegen die „Zukunftsmusik“ gewurzelt ist, hat sie bei gegebener Gelegenheit schon auf das Nachdrücklichste gezeigt.

Der äußere Verlauf der Soiréen ist immer der gleiche. Punkt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_080.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)