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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

pflegt man an die Spitze zu stellen, wo sie dann mit einander abwechseln. Ein anderer Vorzug ist der, daß jeder Begegnende solchen Ketten respectvoll aus dem Wege geht, während in anderen Fällen das Eisrecht (beim Entgegenfahren rechts auszuweichen, links beim Ueberholen) von ungeschickten oder rücksichtslosen Gesellen wohl einmal mißachtet wird.

Der Leser ist jetzt hinlänglich orientirt, daß ich ihn einladen kann, mich auf zwei kleinen Eisreisen zu begleiten, die uns das eine Mal durch den Süden, das andere Mal durch den Norden der Niederlande führen sollen.

Ein sonniger Wintertag liegt heute auf den Landseen bei Rotterdam; aber um dem deutschen Gast die ganze Herrlichkeit unseres Eislebens zu zeigen, brechen wir erst in der Mittagsstunde auf. Ein wahres Jahrmarktsleben ist es, was die Ufer des nächstgelegenen Sees umwogt. Ganze Reihen von Buden mit allerlei Eßwaaren und Leckereien, Glücksräder, Caroussels, ja die unvermeidlichen photographischen „Ateliers“ haben sich hier angesiedelt. Zwischen ihnen, auf breiter glatter Bahn, wiegen sich die Schlittschuhläufer unter den musternden Blicken der Rotterdamer Damenwelt, die heute dem schönen Tag zu Ehren vollzählig und in eleganter Wintertracht erschienen ist. Aber ihre blauen Schleier sieht man hier niemals über einem Paar rascher Schlittschuhe wehen, und auch den Handschlitten, hinter welchem deutsche Ritterlichkeit sich so gern im Schweiße ihres Angesichts abmüht, hat die Sitte überall in den Niederlanden vom Eise verbannt. Aber welch seltsames Ungethüm kommt drüben mit Windeseile dahergebraust? Das ist ein Eiskahn, eine berechtigte Eigenthümlichkeit dieser südlichen Provinzen. Seine Einrichtung ist einfach: ein großer Segelkahn wird auf einem Schlittengestell, das an allen Seiten über den Kahn hinausragt, befestigt. Wir zahlen einen Cent und steigen ein. Das Segel wird gehißt, – jetzt hat es den Wind gefangen, und in rasender Flucht stürmen wir über die freie, spiegelblanke Fläche dahin. Plötzlich ein Ruck am Steuer! Im Bogen schießen wir auf das Ufer los, und einen Augenblick sieht es aus, als wollten wir dort ein Fischerhäuschen einrennen. Aber der Steuermann versteht sein Fach: wir beschreiben einen weiten Kreis, dann einen zweiten, engeren, während unsere Fahrt immer langsamer wird, bis wir bei der dritten Kreisschwenkung still liegen. Wie es hier betrieben wird, gewährt solche Eisbahnpartie ein kurzes, eintöniges Vergnügen, und da man dabei unter allen Umständen eine barbarische Kälte auszustehen hat, so wird es auch von den Eingebornen nur wenig cultivirt.

Doch jetzt sagen wir dem städtischen Gewühl Lebewohl. Den Eisstock unter dem Arm, bewegen wir Drei uns im Gleichtact dort entlang, wo nur einzelne Läufer und die zu beiden Seiten der Bahn warnend aufgepflanzten Binsen und Stöcke uns den Weg nach Gouda weisen. Während wir weiter eilen, dann und wann an Verkaufsständen von Anismilch, Kaffee und Rum vorüber, wecken unsere Schritte auf der Fläche des Sees jenen so ganz eigenthümlichen „wehklagenden Todeston“, wie ihn der Dichter nennt, an den kein anderer Laut auf Erden gemahnt. Wie schauerlich es auch klingen mag, gefahrkündend ist der Ton so wenig, wie das gelegentliche Splittern und Krachen des Eises unter unseren Füßen, bei dem wir wohlgemuth an das clevische Sprüchwort denken „Kraachies is keen Brächies.“ (Kracheis ist kein Brecheis.) In wiegendem Gang kommt eine Kette von Bauernburschen daher, im Sonntagsstaat, die Pelzkappe auf dem Ohr. Gestern sind nach dem Städtchen, dem wir zueilen, Tausende von Landleuten über’s Eis zu Markte gefahren, und selbst heute lassen große, hochbepackte Handschlitten uns errathen, welch ein bedeutender Theil des localen Verkehrs durch den erstarrten Wasserweg vermittelt wird. Diese jungen Bursche aber tragen sich heute mit festlichen Gedanken: drüben am Wege werden sie bald mit den ländlichen Schönen zusammentreffen, die vor einer Viertelstunde mit städtischen Hüten und flatternden Bändern an uns vorübergesegelt sind; da wird denn bei Seidel und Faß hoch gelebt, bis der späte Abend die ganze Gesellschaft in süßem Verein heimwärts führt, und zwar abermals, trotz Spalten und Risse, über die schwach glänzende Eisfläche.

Wir sind an einem Deich angelangt, der hier zwei Landseen scheidet, und über den beflissene Bahnfeger eine leichte Brücke gezimmert haben. Hülfreich bieten sie dem Ungeübten in dergleichen Kletterkünsten die Hand. Hat nun Jeder von uns dem Bahnwärter den schuldigen Wegezoll gereicht, so kann’s und soll’s richtig weiter gehen. Aber der Wind, der uns gerade entgegen weht, hat sich bis zum Sturm gesteigert, und lange arbeiten wir uns mühsam hinauf, dennoch den Vortheil preisend, den unser Associationsprincip uns gegen andere, vereinzelte Läufer gewährt. Doch der folgende See hat eine Revanche für uns in Bereitschaft. Hier haben wir den Wind im Rücken, und indem wir getrennt weiterfahren, erproben wir mit Behagen, wie wir jetzt selbst dann noch ziemlich rasch dahin treiben, wenn wir im dolce far niente mit geschlossenen Füßen den Ueberrock als Segel benutzen. Diese mühelose Bewegung darf uns einen Augenblick ergötzen, dann aber winkt eine bessere Lust. Mit voller Kraft streichen wir aus, und vom Sturm getrieben jagen wir bald über die spiegelglatte, schwarzgrüne Fläche mit der Schnelligkeit eines Eisenbahnzuges daher. Solch ein Flug, bei dem man kaum noch den Vogel in den Lüften beneidet, hat etwas Berauschendes – trotzdem, oder vielleicht um so mehr, als man sich bewußt ist, daß, wenn man jetzt zu Falle käme, „nicht ein Knochen heil bliebe!“ – Wir aber gelangen glücklich an’s Ziel, und nachdem wir den Yssel-Canal durchmessen, fahren wir in Gouda ein, um uns des Gedankens zu freuen, daß wir zum ersten Male in unserem Leben vier Wegstunden auf dem Eise zurückgelegt haben, und zwar – für Anfänger ganz respectabel, zumal wenn man die Deichübergänge in Betracht zieht – in fünf Viertelstunden. Nach einstündiger Rast, „durch des Halmes Frucht und Labe des Weines“ gestärkt, treten wir den Rückweg an, indem wir, Jeder mit vier Gouda’schen Pfeifen, allen Fährlichkeiten der Eisbahn auf’s Neue Trotz bieten. Leider muß ich hier wahrheitsgetreu berichten, wie der eine der Gefährten unterwegs von einem tölpelhaften Bauern angerannt wurde, bei welchem Zusammenstoß die städtische Bildung unterlag und zu Falle kam, während der stämmige Landmann, der durch seine Verachtung ehrwürdiger Eisgesetze dies Unheil herbeigeführt hatte, hohnlachend seinen Weg fortsetzen konnte. Dabei ging nun leider der Stolz des so Betroffenen, die langen Thonpfeifen, in klirrende Scherben. Der zweite der Genossen bringt seine Trophäe glücklich heim; er schnallt die Schlittschuhe ab, gleitet aber auf den wenigen Schritten zum Ufer aus und sieht sein Glück im Hafen untergehen. Mir allein war es beschieden (erröthend gesteht es meine Bescheidenheit), das Siegeszeichen in meine Gemächer heimzuführen, wo es noch vier Wochen lang vor dem Spiegel geprangt hat. – Der Abend wurde durch ein festliches Mahl beschlossen, bei dem ein Appetit die Schüsseln würzte, wie wir ihn früher höchstens nach einer wohlangewandten Fechtstunde gekannt hatten.

Der zweite Ausflug auf dem Eise, zu dem ich mir die Gesellschaft des geneigten Lesers erbitte, ward in Friesland und Groeningen unternommen. Wir hatten gehört, bei der Stadt Groeningen werde eine solenne Wettfahrt auf Schlittschuhen stattfinden, und in aller Frühe zogen wir aus, um dies für uns neue Schauspiel in seinem ganzen Glanze zu genießen. Denn wenn es auch kaum ein Dorf in den nördlichen Niederlanden geben mag, das nicht im Winter seine „hardrijderij“ ankündigt, so thun es doch die Hauptstädte Leeuwarden und Groeningen mit ihren reichen Mitteln allen anderen Ortschaften zuvor. Sobald der Frost anhält, wimmeln die Zeitungen von Ankündigungen, in denen die „Eisvereine“ großer und kleiner Ortschaften zu dem Feste laden; aber die meisten können den siegreichen Wettkämpfern keine höheren Preise gewähren als fünfzig, fünfundzwanzig und zehn Gulden etwa, während die Hauptorte der Provinzen durch einen ersten Preis von zweihundert bis zweihundertfünfzig Gulden eine ungleich größere Schaar von Mitbewerbern anzulocken vermögen. Von Nah und Fern strömen an solchen Tagen die Koryphäen der Stahlschuhkunst zu diesen eigenthümlichen olympischen Spielen herbei. Doch darf ich nicht verschweigen, daß diese Helden sammt und sonders der untern Volksclasse angehören: für einen Gentleman würde es nicht anständig sein, sich in dieser Weise zu betheiligen. Dieser begnügt sich damit, Mitglied des Eisclubs zu werden, wofür er dann mit seinen Damen zu allen Festlichkeiten Zutritt hat. Da der Jahresbeitrag sich in Groeningen, dessen Verein sechshundert Mitglieder zählt, auf zwei Gulden beläuft, so kann damit schon etwas geleistet werden, zumal nach einem Jahr, dessen milder Winter der Gesellschaft eine unfreiwillige Sparsamkeit auferlegt hatte. Bei den meisten Wettfahrten ringen nur Männer um den Preis, mitunter laufen Männer und Frauen paarweise, indem je ein Mann eine Frau hinter sich führt; selten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_076.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2021)