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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Aus dem Paradies der Schlittschuhfahrer.


Von Zeit zu Zeit pflegt am Himmel unserer verwöhnten unternehmungslustigen Touristen, die wie das Publicum im „Faust“ „entsetzlich viel gesehen haben“, ein neues interessantes Reiseziel aufzutauchen, das dann schon deshalb alle anderen Tummelplätze ihrer Wanderlust in Schatten stellt, weil es den Reiz der Neuheit vor jenen voraus hat. So kam vor einigen Jahren für die sommerlichen Pilgerfahrten der Söhne Albion’s Norwegen in die Mode, und auch das nördliche Afrika übt gegenwärtig auf die strebsamen Besitzer wohlgespickter Börsen eine wachsende Anziehungskraft aus. Nun wohlan, hier habe ich etwas Neues für die Feinschmecker in der Touristenwelt! Aber nicht allein für Diese. Wer sehen will, mit welchen Reizen die Eisfahrt Klopstock’s kühnste Bilder übertreffen kann, wer Zeuge sein will eines in mannigfaltigen Zügen durchaus originellen Volkslebens, vor Allem aber wen es lockt, selbst theilzunehmen an diesem frischen und bunten Treiben, den lade ich zu einer Winterfahrt nach dem nördlichen Holland, namentlich nach Frieslands Hauptstadt (Leeuwarden), ein!

In Wahrheit, der Deutsche, der die Eislust in Holland nicht gesehen hat, der weiß in der Regel kaum, was Schlittschuhfahren heißt. Wohl mag er in dem Boulogner Gehölz weit reichere, mehr blendende und phantastische Schaustellungen gesehen haben, die Pracht glänzender Schlitten und Trachten, den Zauber nächtlicher Feste. Auch rathen wir ihm, will er anmuthig und kunstgerecht Schlittschuh fahren sehen, so muß er nicht nach Holland kommen. Die Grazie und der Holländer leben auf gespanntem Fuße: wie er der schlechteste Tänzer in Europa ist, so versteht er sich auch durchaus nicht auf die kunstvollen Bogen und Achte, welche der Stolz deutscher und angelsächsischer Stahlschuhkämpen sind. Schon seine Schlittschuhe, die friesischen wenigstens, eignen sich nur zum Schnelllauf (hardrijden). Aber in anderen Beziehungen sind wir deutsche Eisfahrer wahre Kinder gegen ihn. Als ich noch Gymnasiallehrer in Rotterdam war, las ich in der „Kölnischen Zeitung“ als etwas ganz Außerordentliches die Kunde von zwei jungen Männern, die irgendwo auf deutschen Flüssen an einem Tage acht Wegstunden zurückgelegt haben sollten. Das ist in Holland im eigentlichsten Sinne Kinderspiel.

An dem Tage, wo ich jene „Vermischte Nachricht“ aus dem rheinischen Blatte zu würdigen bekam, war ich Morgens über’s Eis nach Gouda gefahren, und als ich die ersten Häuser des Städtchens, das vier Stunden von Rotterdam abliegt, erreicht hatte, begegneten mir zwei meiner Schüler aus den unteren Classen, die bereits auf dem Rückwege waren. Bei uns in Deutschland besteht das Schlittschuhfahren hauptsächlich in der Kunst, in furchtbarem Gedränge auf engem Raum zusammengepfercht, einander hübsch auszuweichen. Gegen dies „Bahnfahren“ (baantje-rijden) hegt der Holländer eine unsägliche und wohlbegründete Verachtung. Wenn er auf’s Eis geht, zieht er Siebenmeilenstiefel an. Seine Bahn ist dann das Königreich der Niederlande, das überall von einem Canalnetz durchzogen wird, verhältnißmäßig etwa fünfzehnmal so groß wie die Canäle Preußens. In dem Zurücklegen unglaublicher Entfernungen besteht seine Größe. Eine achtstündige Fahrt, wie die von Rotterdam nach Gouda, der Stadt mit den herrlichen Kirchenfenstern, behandelt er als eine kleine Erholung, bei der weiter keine Ehre zu holen ist, als daß man die irdenen „Goudaschen Pfeifen“ mit ellenlangen, von Arabesken umflochtenen Stielen unversehrt heimbringt, zum Zeichen, daß man unterwegs nicht einmal die Bahn fallend gemessen hat. Zu dem Zwecke werden die Pfeifen in Gouda auf der Straße in Buden feilgehalten, und man kauft sich dazu einen Stock, an den ihrer vier mit Bindfaden befestigt werden, damit man sie besser tragen kann; nur die Bauern stolziren mit kurzen Pfeifchen daher, die sie in großer Zahl rings um ihre Pelzkappen gesteckt haben.

Doch, wie gesagt, solch ein Ausflug ist nicht der Rede werth. Ehrgeizige und unternehmungslustige Männer, die ihre Muskeln prüfen wollen, fahren an einem Tage von Rotterdam nach Amsterdam. In Groeningen habe ich einen Primaner gekannt, der Morgens um sieben Uhr auf Schlittschuhen aufbrach, Nachmittags um halbvier Uhr die zwanzig Stunden weit entfernte Stadt Zwolle erreichte und sich dort um vier Uhr auf die Eisenbahn setzte, um Abends bei seinen Eltern in Amsterdam zu sein. Auch nach dieser Richtung wird das Höchste in den nördlichen Niederlanden, in der Provinz Groeningen, vor Allem aber in Friesland, geleistet, wo die holländische Eislust ihre höchste Blüthe entfaltet. In Friesland giebt es förmlich ein Meisterstück im Schnelllauf, das Derjenige geleistet haben muß, der auf den Namen eines echten und gerechten Läufers Anspruch erheben darf. Ein Solcher muß die elf friesischen Städte an demselben Tage befahren haben. Man hat mir von einem Friesen erzählt, der an einem Tage fünfundvierzig Wegstunden zurücklegte; Morgens um fünf Uhr war er ausgefahren, und Abends um elf Uhr kam er heim. Ein mittelmäßiger Läufer rechnet eine Viertelstunde Fahrens auf eine Wegstunde; ein wohlgeschulter legt in derselben Zeit fast das Doppelte zurück.

Die größte Freude aber muß es gewähren, daß man sofort fühlt, wie man sich auf diesen Canälen inmitten einer nationalen Lustbarkeit befindet. Der Friesländer zumal wird mit Schlittschuhen an den Füßen geboren, so gut wie der Preuße mit einer kleinen Pickelhaube zur Welt kommt. Achtjährige Bauernjungen sieht man mit Vehemenz in der Spur ihres Erzeugers daherschießen, den deutschen Neuling durch die ausdauernde Schnelligkeit ihres Laufes beschämend. Sobald das Eis trägt, gerathen überall Städte und Dörfer in Aufregung. Der Verkehr auf den zugefrorenen Canälen ist in Friesland geradezu eine öffentliche Angelegenheit: die Gemeinden stellen Bahnfeger an, die als Zeichen ihrer Würde ein numerirtes Band um den Arm geschlungen tragen, und man behauptet, daß durch diese Biedermänner selbst die unvermeidlichen Spalten im Eise sorgfältig mit Wasser übergossen werden. In abgemessenen Entfernungen, namentlich an jedem Deichübergange, halten sie Wacht; sie kennen jedes Gesicht, das an ihnen vorüberfährt, und wenn man den schuldigen Cent (zwei preußische Pfennige) nicht in Bereitschaft hat, so geben sie gern Credit, bis man am Abend zurückkehrt. Aber wehe Dem, der sie um ihren wohlerworbenen Lohn zu kränken sucht! Schneller, als ihn der Stahlschuh vorüberträgt, ist ihm ihr rächender Besen kunstgerecht zwischen die Beine gefahren, daß der Vermessene krachend dahinstürzt.

Zwischen diesen eifrigen Wärtern der Bahn tummelt sich eine freudige Menge auf und nieder. Jeder hat sich mit seinen Bekannten zu irgend einer größeren oder kleineren Tour aufgemacht, deren Ziel regelmäßig eine benachbarte Ortschaft ist. Die jungen Männer laden die Mädchen ein, denen sie wohlwollen, wobei sich gewöhnlich zwei Pärchen zusammenthun – kleiner darf, außer bei Brautleuten und Geschwistern, solche Gesellschaft nach der Landessitte nicht sein. Oft sieht man aber auch eine Reihe schmucker Bursche daherkommen, während sich die ländlichen Schönen allein ohne Freund und Beschützer hinauswagen. In den Provinzen Nord- und Südholland, überhaupt in den südlichen Niederlanden ist die Sitte weit stiefmütterlicher gegen das junge Volk: dort dürfen die Damen der besseren Stände sich höchstens an abgelegenen Orten, in dem Park einer Freundin oder dergleichen, auf Schlittschuhen zeigen.

In Friesland hat sich für die Schlittschuhfahrer eine eigenthümliche, aber malerische Tracht ausgebildet: Rock mit kurzen Schößen, die der Bewegung die größte Freiheit gestatten; kurze Hose von schwarzem Sammet und über dem Knie mit schwarzseidenen, langflatternden Bändern zusammengebunden; blaugraue lange Strümpfe, Pelzmütze ohne Schirm und Stiefeletten. Gewöhnlich sieht man die Genossen der Lustbarkeit dicht hintereinander in einer Reihe daherfahren. Im eigentlichen Holland haben sie dabei einen langen, starken Stock unter dem rechten Arm durchgesteckt, auf den Jeder die rechte Hand legt. Solche Stöcke werden eigens für das Eisvergnügen angefertigt, sind bei den Kurzwaarenhändlern feil, dunkel angestrichen und an jedem Ende mit einem Knopf versehen. In Friesland und Groeningen kennt man diese Stöcke nicht, hier stützt man eine Hand auf den Rücken, und der Hintermann legt seine Rechte fest hinein; so bildet sich die Reihe, und so führt auch jeder Ritter seine Schöne daher. Die Hauptsache bleibt die große Erleichterung, die Jeder in solcher Kette durch das tactmäßige Austreten und dadurch erfährt, daß der vorderste Läufer den Gegenwind bricht. Die geübtesten Renner

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_075.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)