Seite:Die Gartenlaube (1872) 072.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

und jede Willenskraft, unter ihr lernt sich Alles, und wenn es auch dem ganzen Wesen des Menschen im tiefsten Innern widerstrebt!“

Es bebte wie dumpfer, mühsam verhaltener Groll aus diesen Worten, aber Lucie geriet förmlich außer sich darüber. Ihr zu sagen, sie wäre auch in’s Kloster gegangen! Der Mann schien eine ganz eigenthümliche Vorstellung von seiner priesterlichen Gewalt zu haben, am Ende versuchte er noch gar, die „Zuchtruthe“ auch gegen sie geltend zu machen, sie erwartete nichts Geringeres, als einen vollständigen Bekehrungsversuch.

Aber nichts dergleichen erfolgte. „Wollen Sie mir jetzt mein Eigenthum zurückgeben?“ fragte Benedict nach einer augenblicklichen Pause wieder vollkommen ruhig.

Stumm reichte ihm Lucie das Buch hin, dabei berührte seine Hand einen Moment lang die ihrige, sie zuckte unwillkürlich zurück, er bemerkte es.

„Sie fürchten sich vor mir?“ fragte er leise.

Das junge Mädchen antwortete nicht.

Benedict trat rasch einige Schritte zurück, so daß ein weiterer Raum zwischen ihnen blieb; das eben noch geforderte Buch fiel unbeachtet zu Boden.

„Sie brauchen mich doch wahrlich nicht zu fürchten!“ sagte er bitter. „Ich werde selten genug in Ihren Gesichtskreis kommen. Ein so frohes, sinniges Schmetterlingsdasein und meine Bahn, die liegen allzuweit von einander – hoffentlich berühren sie sich nie!“

Das war doch nun entsetzlich beleidigend und rücksichtslos! Als ob Lucie diese Begegnung gesucht oder gewünscht hätte, als ob sie sie nicht noch ängstlicher mied als der Herr Pater, der so entschieden hoffte, mit ihr nie wieder in Berührung zu kommen! Das war ihr allzuviel, sie brach in vollste Heftigkeit aus.

„Ja, das hoffe ich gleichfalls! Ich weiß ja, daß Sie Alles hassen, was Freude und Sonnenschein heißt, und daß Sie vor allen Dingen mich hassen, ich habe es deutlich genug gesehen!“

Eine tiefe Gluth überdeckte auf einmal Benedict’s Züge, während er den Blick fest auf sie richtete.

„Wo haben Sie das gesehen?“

„Vorgestern auf dem Feste des Baron Brankow! O, und ich nicht allein!“ Lucie war jetzt einmal im Zuge, und nun fiel es ihr auch nicht ein, sich noch irgend einen Zwang aufzuerlegen. „Graf Rhaneck hat es auch bemerkt, wie feindselig Sie uns im Tanze beobachteten; er sagte, Sie sähen aus, als wollten Sie uns Beide in die fernsten Tiefen der Verdammniß schleudern!“

Die dunkle Gluth lag noch immer heiß auf Benedict’s Antlitz, sie schien noch tiefer zu werden bei den letzten Worten, unverwandt blickte er das junge Mädchen an.

„Also auch Graf Rhaneck!“ sagte er bitter. „Ja freilich, dessen Beobachtungen sind auf jeden Fall unfehlbar, zumal für Sie! Sie haben vollkommen Recht, mein Fräulein! Verabscheuen Sie in mir immerhin den finstern Fanatiker, der Ihnen keine Freude und keine Jugendlust gönnt, hassen Sie ihn nach Kräften – es ist am besten so!“

Er wandte sich heftig ab; Lucie stand betreten da, eine solche Antwort hatte sie am wenigsten erwartet. Zwar verstand sie gar nicht die räthselhaften Worte, aber Eines verstand sie doch, den Klang derselben, das tiefe, schneidende Weh, das aus ihnen hervorbrach, und groß und verwundert schaute sie ihn an. Es war ein eigenthümlich ernster und nachdenklicher Blick, wie er nicht oft in diese immer lachenden Kinderaugen trat; sie hatte auf einmal alle Lust zum fernern Streite verloren.

Langsam ließ sie sich wieder auf die moosigen Steine nieder und pflückte einige von den überhängenden Ranken der Waldrebe, die sie fast mechanisch zu einem dichten Gewinde ineinanderschlang; sie hoffte, Pater Benedict würde sich nun endlich entfernen, aber er blieb, er verharrte unbeweglich auf seinem Platze. Vielleicht empfand der finstere Fanatiker doch in diesem Augenblicke etwas von dem bezaubernden Liebreiz des jungen Wesens, das wie eine Elfe dort am Rande der Quelle saß, umwogt von der braunen Lockenfülle, umschattet von den blühenden Ranken, Hände und Schooß voll Blumen. Sie blickte nicht ein einziges Mal auf von ihrer Beschäftigung, denn wenn sie es auch nicht wußte, sie fühlte doch, daß seine Augen wieder auf ihr ruhten, fühlte es an jener leise quälenden Empfindung, die sie neulich bis in den Traum hinein verfolgt hatte; sie wachte immer nur auf unter diesem Blicke.

Tiefe schweigende Mittagsstille ringsum im Walde. Nur das Quellchen sang seine einförmige träumerische Melodie, als wolle es Alles ringsumher einsingen in Schlaf und Traum. Leise rieselte der silberne Strahl vom Fels hernieder, leise rauschte der Wald und leis und mild dufteten die weißen Blüthen, auf der Wiese leuchtete und flimmerte das Sonnengold und dahinter ruhten die tiefen Waldgründe, noch unberührt von den Strahlen, im grünen, duftigen Dämmerschein. Es wehte seltsam daraus hervor, der Waldeszauber hatte sich aufgethan und umfing den Ort mit seiner ganzen geheimnißvollen Gewalt, umfing auch die Beiden auf der stillen Bergwiese. Er nahm sanft und unwiderstehlich von dem finstern Antlitz des jungen Priesters all den Haß und all die Bitterkeit, die so oft dort eingegraben standen, und legte dafür auf das rosige Kindergesicht des jungen Mädchens einen milden träumerischen Ernst, wie er selten dort weilte; er spann leise, unsichtbare Fäden hinüber und herüber von Einem zum Andern, ein zartes luftiges Gewebe; er wob es fest und fester, und zwischen ihnen rieselte fort und fort der silberne Strahl und flüsterte ihnen die uralte ewige Melodie, die so oft schon zwei Menschenherzen in den Traum gesungen oder – daraus erweckt hat.

Da auf einmal brach der Bann, der ganze Zauber zerrann, das luftige Gewebe aus Sonnengold, aus Blumenduft und Quellenrauschen zerriß, als habe eine fremde Hand jäh hineingegriffen. Benedict war plötzlich aufgefahren, und als Lucie bei seiner heftigen Bewegung emporsah, da traf sie wieder jener wild flammende Blick, wie neulich mitten im Tanze, traf sie nur einen Moment lang, um sich dann sprühend wieder nach der andern Seite zu wenden. Erschreckt folgte sie der Richtung seines Auges; drüben am Rande der Wiese war der junge Graf Rhaneck soeben aus dem Walde hervorgetreten und blieb in sichtlich unangenehmer Ueberraschung stehen, als er das schwarze Benedictinergewand neben der hellen Gestalt des jungen Mädchens erblickte.

Halb überrascht, halb bestürzt erhob sich Lucie; aber sie athmete tief auf beim Anblick des Grafen, seine Erscheinung löste den seltsam beängstigenden Traum, der sie so fest umstrickt gehalten, daß sie alles Andere darüber vergaß. Unwillkürlich that sie einen Schritt ihm entgegen. Benedict sah es; er wurde auf einmal todtenbleich und trat langsam noch weiter zurück, bis tief in den Schatten der Felswand.

Ottfried hatte indessen auch bemerkt, daß er gesehen worden sei; er kam rasch über die Wiese und näherte sich den Beiden.

„Ah, mein Fräulein, welch ein unverhofftes Glück, Sie hier zu finden! Sieh da, Hochwürden!“ Er grüßte mit einer kalten Verneigung den jungen Priester und wandte sich dann sofort wieder zu Lucie. Wie hätte ich ahnen können, daß meine einsamen Jagdstreifereien mir zu einer solchen Begegnung verhelfen würden! Noch war es mir nicht vergönnt, Sie nach dem Feste begrüßen zu dürfen; ich danke doppelt dem Zufall, der mir heute diese Gunst gewährt.“

Ottfried wußte diese galanten Phrasen so unbefangen hinzuwerfen, als sei es in der That nur der Zufall, der ihn hergeführt, als habe er nicht bereits gestern und heute das ganze Gebiet von Dobra umstreift, um ein solches Zusammentreffen herbeizuführen, als sei er nicht seit einer vollen Stunde unterwegs, um Lucien, die auf’s Gerathewohl in den Wald gelaufen war, auf den verschlungenen Pfaden desselben zu folgen, bis er sie endlich, nach mancher Mühe und manchem Abirren von der rechten Spur, auffand. Lucie selbst hatte freilich keine Ahnung hiervon; desto richtiger schien Pater Benedict den „Zufall“ aufzufassen; er hatte den Gruß des Grafen stumm erwidert und lehnte jetzt drüben an der Felswand, das Auge mit einem durchbohrenden Ausdrucke auf die Beiden gerichtet.

Bei jeder andern Gelegenheit hätte Lucie eine solche Begegnung mit großer Genugthuung begrüßt; sie war nun einmal entschlossen, dem Verbot des Bruders, das ihr jeden fernern Verkehr mit dem Grafen untersagte, ganz offen zu trotzen, und es traf sich sehr glücklich, daß dieser sich ihr gerade hier nahte, wo Bernhard weder sich einmischen, noch es verhindern konnte; aber sie kam heute nicht zur Freude und Genugthuung darüber, der finstere Beobachter dort drüben peinigte sie unaussprechlich, das Bewußtsein seiner Nähe raubte ihr allen Halt und alle Unbefangenheit; sie konnte den harmlos neckischen Ton nicht wiederfinden, in welchem sie neulich mit Ottfried verkehrt hatte, und antwortete nur verlegen und zerstreut auf seine wieder reichlich aufgebotenen Galanterien.


(Fortsetzung folgt.)


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_072.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)