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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Aeußerste – ich mußte bei Collegen und Freunden betteln – mit meinen von Frost erstarrten Gliedern oft auf Strohlagern und ohne jegliche Bedeckung liegen, zur Erwärmung meiner Glieder und um mein niedergebeugtes und verzweifeltes Gemüth zum Betteln zu ermuthigen, sogar Schnaps trinken, den ich seit zwanzig Jahren eifrig vermieden hatte. Wenn ich jetzt auf meinen Zustand zurückblicke, so begreife ich selber nicht, daß ich meinen Verstand nicht vollends verloren habe. War doch meine Geistesverwirrung schon so weit, daß ich mir mehrmals das Leben nehmen wollte, und hätte meine standhafte und fromme Frau mich nicht getröstet, wer weiß was geschehen wäre! Als ich schon wieder einigermaßen zu mir gekommen war, erkrankte meine Frau und so heftig, daß nun sie sich und ihren Kindern, die sie so zärtlich liebte, mehrmals das Leben nehmen wollte.“

Um diese Zeit wurden vom Centralverein zur Unterstützung nothleidender Armen auch an ostpreußische Gemeinden nicht unbedeutende Summen abgeliefert, deren Vertheilung den Geistlichen und Schulzen anvertraut ward. In der Liste der Armen hatte auch der pensionirte Lehrer mit seiner Familie eine Stelle gefunden, und da der Pfarrer diese Liste vor der allwöchentlichen Gabenvertheilung stets laut verlas, so erregte dies, so oft die Namen Nowak’s und der Seinen an die Reihe kamen, stets ein höhnisches Gelächter der Anwesenden. Als der Lehrer dem Pfarrer deshalb mit einer Klage beim Bischof von Ermeland drohte, unterließ er diese Verlesung.

„Erst am 2. November 1869“ – schreibt Nowak – „gelang es mir, meine nackte, verkrüppelte, ausgehungerte und obdachlose Familie aus Willims zu erretten und in Graskau, einem Dorfe des Kreises Allenstein, unterzubringen. Dieses Dorf besteht nur aus fünf Wirthen, zwei Eigenkäthnern und fünf Instleuten, fast alle arme Menschen, außer dem Schulzen, der mir manche Gabe zukommen ließ.“ – Von hier aus suchte nun Nowak durch Klage- und Bittschreiben der augenblicklichen Noth zu wehren und für die Aufbesserung seiner Zukunft zu wirken. Es gelang ihm, kaiserliche und königliche Herzen zu rühren und dadurch manche Linderung seiner Lage zu erwerben; dagegen war weder im Berliner Abgeordnetenhaus, in welchem für seine Petition nicht die erforderlichen fünfzehn Stimmen zusammengebracht wurden, noch bei dem „Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten“ etwas Tröstliches auszurichten.

Ein Glück für ihn war es, daß das Dorf Graskau sehr nahe an einem königlichen Forst liegt: in demselben hat sich seine Familie den ganzen Sommer meistentheils von Pilzen und Beeren ernährt, und diese einfache Nahrung und dieses Leben in der gesunden Waldluft bewirkten ohne Zweifel das noch größere zweite Glück, daß die älteste und die jüngste Tochter Nowak’s wieder vollkommen gesund wurden und bei braven Familien in Dienst kommen konnten. „Jetzt bin ich mit meiner Frau und meiner Tochter Marianne, die nie mehr hergestellt werden wird, allein und wohnen bei dem Eigenkäthner H. in einer Stube zusammen, der uns beheizt; für Wohnung und Heizung zahlen wir ihm zehn Thaler. Das ist gewiß bescheiden und doch schon eine große Verbesserung neben dem bisherigen Elend.“

Nach dem Erscheinen unseres Artikels in Nr. 41 nahm das Schicksal der Familie eine andere Wendung. Sowohl bei uns, als bei Nowak direct gingen Unterstützungen mit so warm ausgesprochener Theilnahme für den mißhandelten Lehrer ein, daß dieser auch moralisch sich wieder gehoben fühlte und den Muth gewann, von Neuem den Schutz der Regierung anzurufen. Er schrieb uns darüber: „Wie ich Ihnen am 27. November (vorigen Jahres) aus Bischofsburg meldete, bin ich mit meiner Frau nach Königsberg zum Herrn Oberpräsidenten von Horn gereist und bekam am 29. Audienz. Ich wurde zu Protocoll vernommen und trug darauf an, mich, meine Frau und meine kranke Tochter Marianne in Graskau auf dem Wege des Armengesetzes durch die Gemeinde Willims ernähren zu lassen.“

Vor diesem Satze schütten vielleicht mancher Leser unwillig den Kopf und fragt: „warum dringt der Mann nicht auf Wiedereinsetzung in eine Schulstelle? Warum will er sich beschäftigungslos nur ernähren lassen?“ Darauf lassen wir ihn sogleich selbst antworten. Er schreibt am achtundzwanzigsten December vorigen Jahres, nachdem er, „der Schande des Bettelns entrissen, zum ersten Mal wieder ein frohes Weihnachtsfest begangen“, Folgendes:

„In Folge des für mich so glückbringenden Artikels ist mir laut Beilage die Stelle eines Hülfsschreibers angeboten worden; jedoch habe ich dieselbe dankend ablehnen müssen, weil in Folge des vielen Ungemachs, das ich in diesen Jahren erlitten, meine Kräfte so abgenommen haben, daß ich eine solche Stelle nicht mehr mit der gehörigen Pflichttreue versehen könnte. In dem unbewohnbaren Schulgebäude habe ich neun Zähne ganz verloren, die übrigen sind mir stockig geworden und schmerzen mich nun so, daß ich harte Speisen fast ungekaut verschlucken muß. Außerdem leide ich fast fortwährend an Kopfschmerz, Katarrh, Husten und Gliederfrost; wenn ich eine Anhöhe auch nur langsam ersteige, geht mir der Athem[WS 1] aus, so daß ich fast ersticke. Ich schlafe sehr oft vor Mattigkeit ein, und zu alledem ist nun noch das Uebel hinzugetreten, daß ich an Unvermögen des Harnverhaltens leide, so daß ich also für diese Welt als abgestorben zu betrachten bin.“

Wir haben diesen Satz ohne Scheubedenken abgedruckt, weil nur so, in seiner ganzen Jammergestalt, der arme Mann vor jedem Vorwurf darüber, daß er sich nur noch ernähren lassen wolle, sicher gestellt ist. Dagegen freut es uns, mittheilen zu können, daß trotz des verkrüppelten Körpers der in solcher Weise pensionirte Lehrer das Gefühl der Mannesehre sich bewahrt hat. Als in Königsberg der Herr Oberpräsident ihn nicht nur mit Reisegeld versah und ihm die Zusicherung gab, daß er für ihn sorgen werde, sondern auch es ihm noch freistellte, ein Immediatgesuch an den Kaiser zu richten, ergriff gerade dies Nowak mit besonderer Freudigkeit und hat es nun bereits gethan. „Nicht um Revision der Acten,“ schreibt er, „habe ich Se. Majestät angefleht, sondern nur darum, daß mein früherer guter Local-Schulinspector, Pfarrer H. zu L., mein College B. zu L. und der königliche Baurath M. in Rastenburg vor dem jetzigen Herrn Oberpräsidenten vorgeladen würden, damit ich bei meinen nun wieder hergestellten Geisteskräften durch schlagende Beweise und durch die obigen Zeugen meine Unschuld nachweisen könne.“ – Trotz des tiefen Falls aus leidlichem Wohlstand und geordnetem Familienleben bis zur Bettelarmuth und zur Armenverpflegung des unglücklichen Restes seiner Familie will der Mann wenigstens als pflichtgetreu in seinem Amte dastehen, und das ist brav.

Unser Eintreten für den verfolgten Lehrer hat mit der Schilderung seiner Schulwohnung begonnen; ein Gang zu ihr möge nun auch den Schluß desselben bilden. Nowak konnte es sich nicht versagen, bei seiner Königsberger Reise den Weg über Willims einzuschlagen. Man hatte sein altes Schulgebäude für den neuen Lehrer auf’s Sorgfältigste herausgeputzt und sogar die Tischlerarbeiten zur Blendung mit Oelfarben angestrichen. Dennoch weigerte sich derselbe beharrlich, es zu beziehen, und hatte die Lehrerwohnung zum Schulholzstall degradirt. Für ihn selbst mußte die beste und gesundeste Wohnung im Dorfe gemiethet werden. In diesem Frühjahr wird ein neues Schulhaus massiv aufgerichtet und Nowak’s Leidensbaracke zu einem Schulhaus-Wirthschaftsgebäude umgewandelt.

Fr. Hfm.




Blätter und Blüthen.


Die Tractätchen-Journale und ihr neues Jerusalem. Zu den mancherlei erbaulichen Dingen, welche im Lager des Muckerthums mit ganz besonderem Eifer gepflegt werden, gehört seit längerer Zeit auch eine Wiederaufrichtung des sogenannten Chiliasmus, was zu Deutsch nichts Anderes sagen will, als die wirkliche Erwartung des Gottesreiches mit dem sichtbaren Wiedererscheinen Christi und jenem neuen Jerusalem, das sich alsdann (nach Offenb. Joh. 21, 16) auf die Erde herabsenken und alle lebenden und jemals verstorbenen Frommen zu einem tausendjährigen Dasein voll ungetrübtester Befriedigung und irdisch-himmlischer Wonne in sich aufnehmen soll. Wenn es jetzt manchen frommen und geistlichen Herren Vergnügen macht, den Kinderglauben an die buchstäbliche Erfüllung solcher Wunderverheißungen im Kreise ihrer Getreuen zu verbreiten, so wird sich dagegen leider direct nichts ausrichten lassen. Etwas Anderes aber ist es mit einem Wirken durch die Presse, wenn uns hier die vermessensten Widersinnigkeiten und die emsige Gier, sie zu verbreiten, mit herausfordernder Deutlichkeit unter die Augen treten. Hier hätte es längst an einer kräftigen und planmäßigen Gegenwirkung zum Schutze unwissender und urtheilsschwacher Leser nicht fehlen dürfen, und dieselbe hätte sich nicht allein wider den mystisch-süßlichen Blödsinn der zahllos von den frommen Vereinen colportirten Tractätchen, sondern vor Allem auch wider die vielen sogar oft politischen Wochen- und Tagesblättchen wenden sollen, welche in den verschiedensten Winkeln unseres Vaterlandes dem Sumpf- und Moderboden

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Athe.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_067.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)