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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

der Kuh begleitete mit tactmäßigem Klingen das Geschäft des Wiederkäuens, dabei schlief sich’s leicht und sicher ein. Plötzlich aber mußte eine Ziege sich mit dem Hinterfuß am Ohre kratzen, so daß ihre Schelle laut rasselte.

Anderl, der sich schon in sanften Träumen wiegen mochte, wurde durch das Getöse unsanft gestört und erhob flehend seine Stimme:

„Kaaschpar – Kaaschpar – die Goas schelleret underzu.“

Kaspar erwiderte ihm ein paar tröstliche Worte, und unsere Nachtruhe wurde nicht weiter unterbrochen.

Am frühen Morgen weckte mich Anderl und machte mit einem Streichholz Licht, wir standen auf und verließen den Heuboden. In der Hütte saß schon der Milcher am Feuer und wärmte für uns die Milch. Nachdem das Frühstück verzehrt und die Zeche in Ordnung gebracht war, gingen wir fort, dem Morgen entgegen.

Der Himmel über uns war klar, die Nacht schwand; beim Morgengrauen stiegen wir durch Wachholder- und Alpenrosengebüsch an der Thalwand empor, über der uns schneeige Gipfel winkten. Am Himmel und um uns her herrschte Dämmerung, das Thal blieb in Dunkelheit liegen.

Nachdem wir die erste Bergstufe erstiegen, machten wir auf einer großen Gneißplatte eine Minute Rast; ringsumher standen einzelne verwetterte Arven, die letzten Waldbäume inmitten einer Vegetation von Knieholz und Sträuchern. Weiter empor ging es über eine hügelige Grasfläche, das Gras war braun und starr von Frost; hinter uns wogte schon der Nebel über unsere Steinplatte. Ein eisiger Wind blies uns entgegen und drückte den Nebel zu Thal, vor uns lag der Gletscher, ein weißes Gebirge auf dem Gebirge. Er trat in zwei Armen zu beiden Seiten eines Felsstockes hervor, der sich wie ein Keil in die Eismasse hineindrängte.

Hinter einem Granitwürfel, so groß wie ein Haus, machten wir wiederum Rast und nahmen, vor dem Winde geschützt, Speise und Trank zu uns. Die ersten Strahlen der Sonne drangen über den Berg und beschienen uns matt und winterlich. Dann ging es wieder vorwärts, wir stiegen an dem Felsstock empor, aus dessen Spalten mir Anderl mit dem Stock prächtige Speikpflanzen losmachte, und betraten den Gletscher zur Rechten. Das Gehen auf der glatten Eisfläche war anfangs mühsam und beschwerlich, wegen der starken Neigung des Gletschers, man mußte auf die Steine zu treten suchen, die im Eise steckten; bald aber wurde die Neigung geringer, die Fläche ebener, und der Tritt sicherer. Zudem stellte sich eine Rinde von jungem Schnee ein, der hart gefroren war und das Ausgleiten verhinderte. Das war eine sehr zweideutige Zugabe zu unserer Partie; vorläufig war seine Masse nur gering, aber je weiter wir kamen, desto mehr nahm sie zu und verdeckte die Spalten.

Wir gingen wie mitten im Winter, rings umher die weite weiße Fläche, umgeben von todten Felsen. Im Thale, das wir verlassen hatten, lag eine feste Wolkenschicht, darüber zogen in langen Reihen die Gipfel des Hochgebirges gegen die Duxer Alpen hin, die in der Ferne bräunlich angehaucht erschienen; der Himmel war zwar rein, aber die Sonne hatte keine Kraft, man konnte hineinsehen, ohne geblendet zu werden. Auf den Schneegipfeln zu unserer Rechten erhob sich eine kleine weiße Wolke, die lang emporwuchs und dünner werdend verschwand. Dort trieb der Wirbelwind sein Spiel mit dem lockern Schnee. Im Glarner Lande habe ich dies Phänomen zuerst gesehen, damals sagte man mir, es bedeute gutes Wetter, Anderl aber meinte bedenklich, hier zu Lande verhieße es das Gegentheil.

Das Schauspiel wiederholte sich öfter; vor uns auf der freien Fläche stieg die Erscheinung empor und wandelte im Halbkreis um uns herum, ein anderes Mal waren wir plötzlich mitten darin, es war ein Sausen und Tosen, daß wir eine Minute lang unser Wort nicht verstehen konnten. So ging es stundenlang eintönig fort; wir mochten etwa die Mitte des Gletschers erreicht haben. Die zerklüfteten Regionen des Eises, die sich anfangs nur in der Ferne gezeigt hatten, erschienen näher gerückt, sie umfingen uns von rechts und links, wir waren selbst schon im Anfang derselben.

Andres blieb stehen und holte das Seil aus dem Sack hervor. Das eine Ende band er mir um die Brust und schlang den Knoten drei- und vierfach, nahe dem andern Ende band er sich daran. Mir, der ich noch nie am Seil gegangen war, erweckte es ein unheimliches Gefühl, mich eines Theiles meiner Selbstständigkeit beraubt zu sehen, und gebunden den Tritten eines Andern zu folgen. Das Seil war sehr lang; um nicht darauf zu treten, nahm ich es in Schlingen in der linken Hand zusammen, während die Rechte den Alpstock führte.

„Gehen Sie nicht zu nahe hinter mir,“ sagte er, „halten Sie sich in einiger Entfernung.“

Wir stiegen und sprangen über Klüfte, er prüfte zweifelhafte Stellen mit dem Stock, bevor er sie betrat, so kamen wir langsam auf gewundenem Wege vorwärts.

Ich sah immer vor mich auf den Weg und folgte genau seinen Tritten. Da plötzlich – ein dumpfer Schall – ich sah auf – Andres halben Leibes im Schnee – er griff mit den Händen vor sich – jetzt war er versunken.

Nun faßte es mich; der Strick schnitt in meine Hand – es riß mich vornüber – ich fuhr über den Schnee der dunkeln Oeffnung entgegen, wie ein willenloser Gegenstand. Ich sträubte mich, der Schnee furchte sich, meine Hände bluteten. Ich fühlte keinen Schreck und keinen Schmerz, hatte auch keine Gedanken, aber in dem Augenblick schossen mir tausend Bilder durch das Gehirn, ich sah die offene Kluft vor mir und die weiße Schneefläche, und vor allem Andern war die eine Vorstellung lebendig in meiner Seele: ob ich wohl zum letzten Mal die Sonne sähe?

Es war nur ein Augenblick, ich lag, meine Kniee hatten einen Halt, es hatte mich nicht hinuntergerissen. Aber wie lange noch? Noch zog der Strick; wenn der Halt wich? – Sollte ich das Seil durchschneiden? Wie das Messer nehmen? Aber er – nein, das ging nicht an. Ich lag ja, die Kniee hatten sich in den Schnee eingedrückt. Ob er lebte?

Mit beiden Händen ergriff ich das Seil und zog, was ich konnte; einen Versunkenen herauszuziehen, ihn nach Kräften hoch zu halten, dachte ich. Das Seil schnitt in den Schnee, ohne meinem Zuge zu folgen.

Aus der Tiefe drang ein dumpfer Laut herauf, er lebt! Die Stimme klang schwach und undeutlich; er rief mir zu, ich hörte etwas wie „Ziehen“, und zog. In dem Augenblick ging ein Wirbelwind über mich hin, der seine Worte verschlang.

Ich rief wieder und fragte: „Was sagen Sie?“

Ich mußte mehrmals fragen, endlich verstand ich: „Lassen Sie nach!“

Ich fragte: „Stehen Sie?“

„Ich stehe, lassen Sie nach!“

Ich ließ das Seil nach, es wurde allmählich schlaff.

„Geben Sie Acht, daß Sie nicht hineinfallen, kommen Sie nicht zu nahe an die Kluft heran!“

Es war die Stimme eines lebendig Begrabenen. Er rief die Worte einzeln, sie klangen gedämpft und hohl.

Er fragte: „Haben Sie einen festen Halt?“

Ich antwortete, daß ich augenblicklich gesichert wäre, um nicht hineinzufallen, während dessen bohrte ich den Alpstock fester in den Schnee.

Unser Gespräch ging nicht so glatt, wie ich es schreibe; jeder Satz mußte zwei, dreimal wiederholt werden, ehe der Andere ihn verstand. Der Wind und die tiefe Kluft verschlangen vom Schall der Worte das Meiste.

„Können Sie verstehen, was ich sage?“ rief er.

„Sprechen Sie langsam, dann verstehe ich.“

„So hören Sie. Die Kluft ist hier zu breit, hier kann ich nicht herauf, weiter oben wird sie enger. Dort müssen Sie ein Loch durch den Schnee schlagen. Warten Sie, ich binde das Seil los. Haben Sie verstanden?“

„Ich habe verstanden.“

„Jetzt ziehen Sie das Seil herauf.“

Ich kniete und zog – es kam leer herauf – es wollte kein Ende nehmen, es war das Maß der Tiefe, in der er lag. Endlich war es oben, es klebte Blut daran.

„Das Seil ist oben!“ rief ich.

„Jetzt gehen Sie – eins – zwei – drei – vier – fünf Klaftern aufwärts an der Kluft, dort schlagen Sie das Loch.“

„Verstanden! In welcher Richtung soll ich gehen? Doch nach dem Berge zu?“

Die Spalte schien mir eine von den querverlaufenden zu sein; doch kreuzten sie sich hier so vielfach, daß ich mir durch Fragen erst Gewißheit verschaffen mußte, um nicht selbst in Gefahr zu gerathen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_062.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)