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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

desselben (Gewohnheiten), so daß es sich selbst darnach verändert, theils willenlos durch die Einwirkung der äußeren Umstände, also gezwungen. Durch das Wandern der Thiere und Pflanzen, welches in Folge verschiedenartiger Naturereignisse veranlaßt wird, ändern sich für die Ausgewanderten die äußern Umstände in der Regel sehr bedeutend und die dadurch bedingte Anpassung wirkt verändernd auf die Formen derselben ein.

Ganz besonders großen Einfluß auf die Umänderung der Organismen hat aber der Kampf um’s Dasein oder die Mitbewerbung um die nothwendigen Existenzbedürfnisse. Jeder Organismus kämpft nämlich von Anbeginn seiner Existenz mit einer Anzahl von feindlichen Einflüssen, kämpft mit Thieren, welche von diesem Organismus leben, mit anorganischen Einflüssen der verschiedensten Art (Temperatur, Witterung) und ganz besonders mit den ihm ähnlichsten und gleichartigen Organismen wegen der Mittel zum Lebensunterhalt. Die Erfahrung lehrt nun, daß alle pflanzlichen und thierischen Individuen (Einzelwesen) weit mehr Nachkommen erzeugen, als Nahrung für dieselben vorhanden ist. Nur die durch ihre Organisation und die umgebenden Verhältnisse bevorzugten Individuen werden aber beim Kampfe um ihre Existenz über die andern den Sieg erlangen, und während die letzteren früher zu Grunde gehen, ohne Nachkommen zu hinterlassen, werden die ersteren jene überleben und zur Fortpflanzung gelangen. Die von dieser erzeugte Generation wird durch Vererbung nun derjenigen individuellen Vortheile theilhaftig, durch welche ihre Eltern den Sieg über ihre Nebenbuhler davontrugen. – Ebenso wie der Kampf um’s Dasein wirkt aber auch der Kampf um die Ehe bei den Thieren vervollkommnend auf die Formen derselben ein und zwar insofern, als diejenigen Männchen, welche die kräftigeren sind und muthiger um das Weibchen kämpfen können oder die ihrer Farben, ihres Schmuckes und Gesanges etc. wegen vom Weibchen bevorzugt werden, durch Fortpflanzung ihre Vorzüge (Farben, Schmuckanhänge) auf ihre Nachkommen vererben. – Bei der Vererbung wird nun aber die günstigere Organisation nicht von Generation zu Generation einfach in der ursprünglichen Weise übertragen, sondern sie wird fortwährend gehäuft und gestärkt, und gelangt schließlich in einer letzten Generation zu einer Stärke, welche diese Generation sehr wesentlich von der ursprünglichen Stammform unterscheidet. Vererbt können werden: ebensowohl schon von den Vorfahren abstammende, also ererbte Eigenthümlichkeiten, wie auch erworbene; erstere Vererbung kann man die erhaltende, letztere die fortschreitende nennen; beide Vererbungen dienen der Vervollkommnung der Organismen. – So hat zum Beispiel der Mensch mit fortschreitender Cultur auch ein durch seine vermehrte und verbesserte geistige Arbeit immer größer gewordenes Gehirn auf seine Nachkommen vererbt und dadurch ist sein anfangs kleiner affenähnlicher Schädel immer mehr dem des heute lebenden Menschen ähnlich geworden. Da schon in der Vorzeit der Mann der Hausfrau und Mutter den größten Theil der geistigen, sowie der anstrengenden körperlichen Arbeit abnahm, so ist auch das Gehirn der Frau kleiner und leichter und die Musculatur schwächer als beim Manne geblieben. Daß sich aber, wie man meint, mit dem größeren Gehirn (bei Mensch und Thier) und der damit zusammenhängenden Steigerung der geistigen Kraft desselben, auch gewisse geistige Eigenthümlichkeiten, wie Neigungen, Triebe, Gewohnheiten, Charakter, Talente etc., vererben sollten, ist ebenso zu bezweifeln, wie das Angeborensein von Anlagen. Diese geistigen Eigenthümlichkeiten sind nur die Arbeit des Gehirns und werden schon in den allerersten Lebensjahren, auf welche bei Biographien viel zu wenig Werth gelegt wird, dem Kinde (in Folge von Gewöhnung, Nachahmung) erst anerzogen. Deshalb gerade ist aber auch die Erziehung in den ersten Lebensjahren am meisten zu beachten; und in diesen Jahren wird der Grund zu den sogen. Anlagen gelegt.

Welchen großen Einfluß veränderte Lebensbedingungen und veränderte Zustände der Außenwelt auf die Gestaltung der Organismen haben können, zeigt sich recht deutlich bei unsrer heutigen Züchtung der Thiere (durch Auswahl geeigneter Individuen für die Nachzucht) und bei der Pflanzencultur. Wie aber bei dieser berechneten künstlichen Züchtung, so fand auch in ganz gleicher Weise bei den vor uns existirenden Thieren und Pflanzen eine unberechnete natürliche Züchtung statt, und durch diese die so auffallende Veränderung in den pflanzlichen und thierischen Organismen. – Bei der künstlichen Züchtung ist es, vermöge der absichtlichen, bewußten, planmäßigen und berechneten Auswahl und Anwendung von bekannten, auf die Formveränderung Einfluß äußernden Bedingungen sehr leicht möglich, innerhalb kurzer Zeit eine ganz neue und von der ursprünglichen Stammform bedeutend abweichende Thier- und Pflanzenform willkürlich zu schaffen. Schon nach Verlauf von wenigen Generationen lassen sich auf diese Weise neue Formen erhalten, welche von der Stammform in viel höherem Grade abweichen, als die wilden Thier- und Pflanzenarten unter sich. Dagegen bedarf es bei der natürlichen Züchtung, die plan- und absichtslos, unbewußt und unberechnet vor sich geht und von nur zufälligen Einflüssen abhängig ist, großer Zeiträume, um bedeutendere Veränderungen im Thier- und Pflanzenreiche hervorzubringen. Hierbei ist der Kampf ums Dasein, sowie der Kampf um die Ehe oder die sogen. „geschlechtliche Züchtung“, von der allergrößten Bedeutung. Auch ist die Bildung von Bastarden (Abkömmlingen zweier verschiedener Arten), sowie die Fortpflanzung von Spielarten (durch irgend eine Eigenthümlichkeit sich von ihren Erzeugern auszeichnende Individuen) als Ursache für die Entstehung neuer Formen anzusehen. – Alle unsere jetzigen Hausthiere und alle Gartenpflanzen stammen ursprünglich von wilden Arten ab, welche erst durch eigenthümliche Lebensbedingungen, unter denen sie leben mußten, umgebildet und cultivirt wurden. Von Culturpflanzen ist die wilde Mutterpflanze oft gar nicht mehr bekannt. Auch bei der Bildung der Menschenracen bediente sich die Natur derselben Mittel, wie der Landwirth bei der Züchtung von Hausthierracen, und es wird der Mensch sicherlich im Kampfe um’s Dasein, welcher sich bei der rapiden Vermehrung der Menschen immer mehr steigert, in Folge der natürlichen Züchtung nach und nach in eine größere Anzahl verschiedener und zwar edlerer Racen zerfallen, während die wilden Menschenstämme unter dem Drucke der weißen Einwanderung aus Europa immer mehr untergehen. – Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication (der Hausthiere und Culturpflanzen) ist sonach von der größten Bedeutung für die Erklärung der Veränderungen, welchen Pflanzen und Thiere auf unserm Erdball nach und nach unterworfen waren. – Die neue von Darwin aufgestellte Theorie, welche uns mit den natürlichen Ursachen der organischen Entwickelung, den wirkenden Ursachen der organischen Formbildung, den Veränderungen und Umformungen der Thier- und Pflanzenarten bekannt macht, wird die „Selectionstheorie, Züchtungslehre, Theorie von der natürlichen Züchtung“ genannt. Für diese Theorie haben sich neuerlich auch Huxley, Hooker, Wallace, Lyell und fast alle deutschen Naturforscher erklärt. Dagegen hat man der Theorie, welche vor Darwin schon von Lamarck, Geoffroy St. Hilaire, Goethe, Oken, Treviranus als Hypothese aufgestellt wurde, nach welcher alle Organismen, welche jemals auf der Erde gelebt haben und noch jetzt leben, von einer einzigen oder von wenigen höchst einfachen Stammformen abstammen und sich aus diesen auf dem natürlichen Wege allmählicher Umbildung innerhalb ungeheurer geologischer Zeiträume entwickelten, die Namen der „Descendenztheorie oder Abstammungslehre, Transmutationstheorie oder Umbildungslehre“ gegeben. Die Abstammungslehre verdanken wir vorzugsweise dem französischen Naturforscher Lamarck (1744–1829), während der Begründer der Züchtungslehre der englische Naturforscher Darwin (1808 geboren) ist. Durch Ersteren wissen wir, daß auf der Erde eine fortschreitende Umbildung der organischen Gestalten stattfand, durch Letzteren, warum und wie eine solche zu Stande kam, welche mechanisch-wirkenden Ursachen die ununterbrochene Neubildung und immer größere Mannigfaltigkeit der Thiere, Pflanzen und Menschen bedingen.

NB. Wer sich für diese Lehren interessirt – und welcher Gebildete thäte dies nicht? – dem können folgende ausgezeichnete und leicht verständliche Schriften empfohlen werden: Darwin, die Entstehung der Arten und die Abstammung des Menschen; – Haeckel, natürliche Schöpfungsgeschichte; – Büchner, sechs Vorlesungen über Darwin’s Theorie und die Stellung des Menschen in der Natur; – Lyell, das Alter des Menschengeschlechts.

Bock.     
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_060.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)