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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

seines Ungeborenseins (als Embryo) der thierischen Form in einer solchen Weise, daß der menschliche Embryo von dem eines Hundes, Huhnes, einer Schildkröte etc. nicht zu unterscheiden ist. Ja es läßt sich nachweisen, daß der Embryo des Menschen, wie der der höheren Wirbelthiere, während seiner Entwicklung allmählich alle Hauptstufen der unter ihm stehenden Thierwelt von der niedrigsten bis zur höchsten durchläuft. – Es sind sodann dem Menschen (wie dies auch bei den Thieren der Fall ist) Theile angeboren, welche man nur als ererbte Ueberbleibsel von verkümmerten Organen seiner thierischen Vorfahren anzusehen gezwungen ist, da er sie gar nicht brauchen kann, ja die ihm sogar Nachtheile bringen können. Man nennt solche Erbstücke ohne Nutzen „rudimentäre Organe“. Beim Menschen sind zum Beispiel die Ohrmuskeln, welche sein affenähnlicher Vorfahre zum Bewegen seiner zugespitzten Ohren gebrauchte, ganz nutzlos; die Schilddrüse hat ebenfalls keine Bestimmung und giebt nur Veranlassung zum Kropfe; es ist auch der Wurmfortsatz ein ganz unnützes Anhängsel am Blinddarm und kann sehr leicht, durch Aufnahme fremder Körper in seine Höhle, zu tödtlicher Bauchfellentzündung die Ursache abgeben u. s. w. – Es kommt ferner auch nicht selten vor, daß Thiere und Menschen geboren werden, welche weit mehr Aehnlichkeit, und zwar im Ganzen wie in einzelnen Theilen, mit ihren Vorfahren aus einer niedrigern Entwickelungsstufe haben, als mit ihren Zeitgenossen, z. B. Menschen mit Affengestalt. Ferner treten beim Menschen abnorme Theile (z. B. Muskeln) auf, die nur Thieren eigen sind; auch kommen Spaltungen von Organen vor, wodurch diese den entsprechenden thierischen Organen ganz ähnlich werden, u. s. w. Man bezeichnet diese Bildungshemmungen als „Rückschläge“ auf die früheren thierischen Ahnen des Menschen. Während bei diesen Rückschlägen die thierähnlichen Bildungen nur zeitweilig als Abnormitäten gefunden werden, sind die rudimentären Organe stets und als normale vorhanden.

Die Beweise, daß alle Organismen, welche überhaupt bis jetzt auf unserer Erde existirt haben, von der Zeit an, wo die ersten Organismen als die einfachsten Eiweißklümpchen (als Moneren) auf der Erdoberfläche auftraten, sich fort und fort, aber ganz allmählich, und bis zur Jetztzeit stetig, aber nicht durch gewaltsame Erdrevolutionen unterbrochen, vervollkommnet haben, liefern die versteinerten Ueberreste von Thieren und Pflanzen, die Petrefacten, Versteinerungen, welche in der Erdrinde begraben liegen. – Die Versteinerungskunde, Vorwesenkunde oder Paläontologie ist es, welche uns die in versteinertem Zustande erhaltenen Reste und Abdrücke von ausgestorbenen Thieren und Pflanzen als die wahren „Denkmünzen der Schöpfung“ und die untrüglichsten Urkunden, welche die Geschichte der Organismen auf unerschütterlicher Grundlage feststellen, kennen lehrt. Alle versteinerten (fossilen) Reste und Abdrücke berichten uns von der Gestalt und dem Baue solcher Thiere und Pflanzen, welche entweder die Urahnen und die Voreltern der jetzt lebenden Organismen sind, oder aber ausgestorbene Seitenlinien, die sich von einem gemeinsamen Stamm mit den jetzt lebenden Organismen abgezweigt haben. Die paläontologischen Erfahrungen constatiren ferner, daß zu allen Zeiten des organischen Lebens auf der Erde eine beständige Zunahme in der Vollkommenheit der organischen Bildungen stattgefunden hat. Seit jener unvordenklichen Zeit, in welcher das Leben mit der Urzeugung von Moneren begann, haben sich alle Organismen im Ganzen wie im Einzelnen vervollkommnet und höher ausgebildet. Die stetig zunehmende Mannigfaltigkeit der Lebensformen war stets auch zugleich vom Fortschritt in der Organisation begleitet. Je tiefer man in die Schichten der Erde hinabsteigt, in welchen die Reste der ausgestorbenen Thiere und Pflanzen begraben liegen, je älter diese also sind, desto einförmiger, einfacher und unvollkommner sind ihre Gestalten. So gehören zum Beispiel die ältesten fossilen Wirbelthierreste der tiefstehenden Fischclasse, die höher liegenden Reste den vollkommneren Amphibien und Reptilien, die Reste in den obersten Schichten den höchstorganisirten Wirbelthierclassen, den Vögeln und Säugethieren an. Ebenso verhält es sich im Pflanzenreiche, wo anfangs blos die niedrigste und unvollkommenste Classe, diejenige der Algen oder Tange, existirte; später erst die Gruppe der farnkrautartigen Pflanzen oder Filicenen (Farne, Schafthalme, Schuppenpflanzen) auftrat und nach dieser erst die Blüthenpflanzen (Nadelhölzer und Cycadeen, kronenlose und kronenblüthige Blüthenpflanzen) zum Vorschein kamen.

Auch bei der allmählichen, nach Hunderttausenden von Jahren zählenden Entwickelung des Menschen (in körperlicher wie geistiger Hinsicht) verhält es sich auf dieselbe Weise und es unterscheidet sich der Mensch, soweit es seinen Bau betrifft, nicht mehr von den unmittelbar unter ihm stehenden Thieren, als diese von anderen Thieren derselben Ordnung. Die aufgefundenen fossilen Menschenreste, welche schon ziemlich tief unten in der Erdrinde (in der Tertiärschicht) begraben liegen und hauptsächlich in Schädeln, Unterkiefern und anderen Knochen bestehen, sowie die mit diesen Resten gleichzeitig gefundenen Waffen und Werkzeuge, zeigen ganz deutlich, wie so langsam sich der Mensch in seinem Baue und seiner Civilisation vervollkommnet hat und endlich bis zu seiner jetzigen Vollkommenheit (besonders des Gehirns) gelangt ist. Diese Entwickelung ist so allmählich vor sich gegangen, daß man gar nicht mit Bestimmtheit anzugeben vermag, wann eigentlich der Mensch nicht mehr Thier (Affe) war und als Mensch bezeichnet werden konnte. – Er begann sein menschliches Leben, nachdem er sich durch seinen aufrechten Gang und die aus der thierischen Lautsprache zur gegliederten, aber noch sehr beschränkten Wortsprache übergegangene Menschensprache von den großen schwanzlosen Schmalnasen-Affen abgetrennt hatte, als ein roher, kaum über die Stufe der Thierheit sich erhebender, fast stummer Wilder mit affenähnlichem Schädel und kleiner Statur, nackt oder nur nothdürftig mit Thierhäuten und Baumrinden bekleidet, in Höhlen und Felsklüften lebend, fortwährend im Kampfe mit der ihn umgebenden übermächtigen Natur und mit großen (vorweltlichen) Thieren, nur mit rohen Steinkeulen (Steinhämmern, Steinäxten und Kieselknollen) die Thiere (meistens Pflanzenfresser) tödtend, deren Knochenmark und Gehirn er sich durch Zerschlagen der Knochen und des Schädels zur Nahrung wählte. Erst später, nach der ältesten Steinzeit oder dem Stadium der Barbarei schabte er das Fleisch der Thiere mit Kiesel-(Feuerstein-)Messern von den Knochen ab, lernte Feuer machen und baute Herde, verfertigte Werkzeuge von feinerer Arbeit und mit Politur. Ganz allmählich trat er mit Vergrößerung seines Schädels und Gehirns in das Stadium der Jäger, dann der Hirten und Ackerbauer und bediente sich anstatt der Steininstrumente der Werkzeuge von Bronze (aus Kupfer und Zinn) und sehr spät erst solcher von Eisen; auch kupferne und Töpferwaaren hatte er schon früher in Gebrauch. Man nimmt darnach eine Stein-, Bronze- und Eisenzeit in der menschlichen Culturentwickelung an. Hinsichtlich seiner Wohnungen cultivirte sich der Mensch ebenfalls insofern, als er aus Höhlen in selbstgebaute Wohnungen zog, unter denen die Pfahlbauten oder Seewohnungen (in der Schweiz besonders aufgefunden), die halb im Wasser standen, berühmt geworden sind. (Weiteres siehe später bei der Entwickelungsgeschichte der Erdrinde.)

Wie nun die Umänderung der verschiedenen Thiere und Pflanzen, welche bis jetzt auf unserer Erde lebten, nach und nach zu Stande kam, ist hauptsächlich durch Darwin aufgeklärt worden. Vorzugsweise ist es der durch Uebung, Gewohnheit, Bedürfniß, Lebensweise etc. bedingte Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, sowie überhaupt die Verschiedenheit in den Lebensbedingungen und die Einwirkung äußerer Lebensumstände, welche verändernd auf die Organisation, die allgemeine Form und die verschiedenen Theile der Organismen einwirken. Auch ist es nicht unmöglich, daß schon mit dem Keime eine Umänderung vor sich gehen kann, indem die Keime niederer Organismen unter besonderen und günstigeren Umständen in andere und höhere Formen überzugehen vermögen. So ist zum Beispiel bei den Bienen die verschiedene Größe der Zelle, in welche das Ei eingelegt wird, ein Grund mit zur Bildung der Königin, der Drohnen und Arbeitsbienen. – Jeder Organismus nimmt in Folge von Einwirkungen der umgebenden Außenwelt (von Nahrung, Wasser, Licht, Atmosphäre, Temperatur, Klima, Wohnort, umgebende pflanzliche und thierische Organismen) gewisse neue Eigenthümlichkeiten in seiner Lebensthätigkeit, Mischung und Form an, welche er nicht von seinen Eltern geerbt hat, die er aber auf seine Nachkommen vererben kann. Durch diese Anpassung an die eben vorhandenen Verhältnisse und verschiedenen Lebensbedingungen, sowie durch die Vererbung der dadurch veranlaßten Veränderungen werden alle organischen Individuen im Laufe ihres Lebens einander mehr oder weniger ungleich, obwohl die Individuen ein und derselben Art sich meistens ähnlich bleiben. Die allmähliche Anpassung des Individuums an seine Umgebung kann auf doppelte Weise vor sich gehen: theils durch Selbstthätigkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_059.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)