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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Die Zurechtweisung, obwohl mit gedämpfter Stimme gesprochen, klang schneidend scharf, aber freilich die Rhanecks waren streng katholisch, waren es von jeher gewesen, und der Prälat sorgte schon dafür, daß diese Sitte erhalten blieb. Ein Priester nahm dem sonst so ahnenstolzen Geschlecht gegenüber allerdings eine unantastbare Stellung ein, und auch Ottfried war in unbedingter Ehrfurcht vor dem Priestergewande und vor den äußeren Ceremonien der Religion erzogen, so wenig er auch sonst davon in sich tragen mochte. Die heftige Parteinahme des Vaters befremdete ihn deshalb nicht besonders, auch schien dieser seine Erregung bereits zu bereuen, denn seine Stimme war um vieles milder geworden, als er nach einer augenblicklichen Pause hinzusetzte:

„Benedict hat den Erwartungen, die ich bei seiner Ausbildung hegte, in jeder Hinsicht entsprochen. Ich wünsche, daß Du für die Zeit unseres Hierseins ihn zu Deinem Beichtiger erwählst und möglichst bei ihm die Messe hörst, und ich will hoffen, daß sich dadurch ein freundlicheres Verhältniß zwischen Euch anbahnt, als es in Eurer Kinderzeit der Fall war.“

Ottfried schwieg, die äußeren Formen der Ehrerbietung und Rücksicht wurden im Rhaneck’schen Hause streng aufrecht erhalten, aber die Formen waren hier eben auch alles, sie mußten das Herz ersetzen, das nun einmal in allen Beziehungen dieser Familie zu einander zu fehlen schien. Der junge Graf widersprach mit keiner Sylbe dem so bestimmt kundgegebenen Wunsche des Vaters, wenn sein Gesicht auch deutlich verrieth, wie mißfällig ihm derselbe war.

Der Prälat hatte inzwischen durch einen Wink den jungen Priester an seine Seite gerufen und Rhaneck führte ihn seinem Sohne zu, aber zu dem „freundlicheren Verhältniß“, das sich zwischen den Beiden anbahnen sollte, zeigte sich wenig Aussicht. Ottfried, der so eben empfangenen Zurechtweisung eingedenk, zwang sich zur Artigkeit, Benedict blieb kalt und gemessen, es war, als fühlten die jungen Männer instinctmäßig, daß eine weite Kluft zwischen ihnen lag, die wohl nie ausgefüllt werden konnte.

Da gab sich von neuem eine allgemeine Bewegung im Saale kund, ein allgemeines Flüstern und sich Umwenden, alle Blicke waren plötzlich nach der Thür gerichtet, durch die jetzt endlich der längst erwartete neue Gutsherr von Dobra eintrat und, seine Schwester am Arme, sich dem Wirthe näherte, der in der Nähe des Einganges stand.

Der Baron war in der That in einiger Verlegenheit dem Mann gegenüber, der sich so stolz von der ganzen Nachbarschaft abgesondert, und dem gegenüber er gleichwohl, durch höheren Einfluß gedrängt, den ersten Schritt zur Annäherung gethan. Er zog sich indessen noch ziemlich gut aus der Sache, die Bewillkommnung war, wenn auch etwas gezwungen, doch artig, übrigens kürzte er sie so viel als möglich ab und beeilte sich, „Herrn Günther auf Dobra“ seiner Gemahlin vorzustellen. Die Baronin machte es in ähnlicher Weise, sie that, was als Frau vom Hause ihre Schuldigkeit war, aber auch nicht mehr, und so kam es, daß Günther sich, sobald die erste Begrüßung vorüber war, fast gänzlich isolirt neben dem Sessel seiner Schwester fand; die Gesellschaft verharrte vorläufig noch in vollster Ablehnung des fremden, ihr aufgedrungenen Elementes.

Es war kein leichter Stand dieser stummen Opposition des ganzen Kreises und all den neugierigen, mißgünstigen und hämischen Blicken gegenüber, die von allen Seiten des Saales her sich auf diesen einen Mittelpunkt richteten; aber Günther ertrug Eins wie das Andere mit bewunderungswürdiger Gelassenheit. Das war nicht die Haltung eines Mannes, der eine unverdiente Ehre empfängt oder eine unverdiente Kränkung erleidet, Beides schien gleich wirkungslos an dieser gleichgültigen Ruhe abzugleiten, mit der er seinerseits die Gesellschaft musterte, und in dem Blick, der langsam aber forschend darüber hinschweifte, lag nur die eine Frage, die wahrscheinlich allein ihn zur Annahme der Einladung veranlaßt hatte: „Was wollt Ihr eigentlich von mir?“

Jugend und Schönheit haben es überall leicht, selbst dem angestammten Vorurtheile gegenüber, Lucie entwaffnete schon durch ihr bloßes Erscheinen selbst die hartnäckigsten Gegner. Die Herren hatten es bald genug herausgefunden, daß alle übrigen Damen weit hinter dieser lieblichen Erscheinung zurückblieben, und die jüngeren unter ihnen zeigten bereits bedenkliche Neigung, den aristokratischen Principien untreu zu werden. Noch hielt die Furcht vor dem Zorne der respectiven Väter und Mütter die Ueberläufer in Schranken, aber wider alles Erwarten war es diesmal der junge Graf Rhaneck, der das Zeichen zur Fahnenflucht gab.

„Das Mädchen ist reizend!“ rief er mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, „ich werde mir einen Tanz sichern!“

„Aber Rhaneck,“ mahnte einer seiner Nachbarn, „bedenke doch, eine Mademoiselle Günther, die Schwester dieses –“

„Ah bah! Sie sind Gäste des Barons, sind auf Wunsch meines Oheims eingeladen! Er mag die Verantwortung dafür tragen!“

Damit näherte sich Ottfried ohne Weiteres dem Kreise der Damen, ließ sich Lucie vorstellen, und erbat sich ihre Hand für den soeben beginnenden Tanz.

Günther hatte gleichgültig die Annäherung des jungen Officiers gesehen, als jedoch der Name Rhaneck genannt ward, stutzte er und eine sichtlich unangenehme Ueberraschung spiegelte sich auf seinem Gesicht. Er machte unwillkürlich eine Bewegung, wie um seine Schwester zurückzuhalten, im nächsten Augenblick jedoch schien er sich zu erinnern, daß die Aufforderung sich ohne directe Beleidigung nicht ablehnen ließ. Er ließ es geschehen, daß der junge Graf Lucie in die Reihen der Tanzenden führte, die sich im Nebensaal ordneten, aber sein Blick folgte mit einem Gemisch von Unmuth und Besorgniß den Beiden.

„Wollen Sie mir erlauben, Herr Günther, Ihre Bekanntschaft mit dem hochwürdigsten Abt unseres Stiftes zu vermitteln?“ tönte in diesem Augenblick die Stimme des Barons dicht neben ihm, und als Günther sich umwandte, sah er sich plötzlich dem Prälaten gegenüber.

Einen Moment lang maßen die beiden Männer schweigend einander; der scharfe Blick des Geistlichen drang forschend tief in die Züge seines Gegenüber, als wolle er sofort aus ihnen herauslesen, was eigentlich an dem Manne sei, aber er traf hier auf dieselbe eherne Stirn, auf dieselbe kalte, überlegene Ruhe, die sein eigenes Antlitz kennzeichneten, und dies Antlitz mußte vor jenen prüfenden Augen die gleiche Musterung bestehen. Der eine Blick genügte Beiden, Günther lächelte fast unmerklich, als er das erwartungsvolle Herandrängen der Gesellschaft bemerkte, er wußte jetzt, von wem diese räthselhafte Einladung eigentlich ausging, aber auch der Prälat hatte bereits Stellung genommen – er erwies dem Fremden die Ehre, ihn für einen Gegner anzuerkennen.

Der Baron athmete förmlich auf, als der Anstifter der ganzen fatalen Angelegenheit endlich Miene machte, persönlich in die Sache einzutreten, und damit den Alp wegzunehmen, der seit Günther’s Eintritt auf der ganzen Versammlung zu lasten schien. War diese übrigens schon durch den seltsamen Wunsch Seiner Hochwürden, der natürlich kein Geheimniß blieb, alarmirt worden, so wurde sie es noch mehr beim Anblick der sichtbaren Auszeichnung, deren sich der „Emporkömmling“ erfreute. Wenn der Baron artig gewesen war, so zeigte sich der Prälat geradezu verbindlich; er verstand es sonst meisterhaft, sich in seiner geistlichen Würde unnahbar zu machen, und damit eine unübersteigliche Schranke zwischen sich und jedem anderen Sterblichen aufzurichten; dem Protestanten gegenüber, der schwerlich geneigt war, diese Unnahbarkeit zu respectiren, fiel diese Schranke unmerklich, aber sofort, hier war es nur der vornehme Weltmann, der sich mit ebenso viel Tact als Artigkeit bemühte, den Fremden in’s Gespräch zu ziehen und ihm die Einführung in die Gesellschaft zu erleichtern.

Diese fing bereits an dem allmächtigen Einfluß des Abtes nachzugeben. Man brannte in der That vor Neugierde, diesen Günther persönlich kennen zu lernen, und half sich dabei genau so, wie der junge Graf Rhaneck. Man deckte sich für alle Fälle mit der Verantwortlichkeit des Prälaten, um ungescheut seinem Beispiel folgen zu können, man wurde gleichfalls artig, gleichfalls verbindlich, und es dauerte nicht lange, so war der Gutsherr von Dobra aus seiner anfänglichen Isolirtheit zu einer Art von Mittelpunkt geworden.

Inzwischen feierte Lucie im Tanzsaale einen ähnlichen Triumph, obgleich sie sich zur Zeit noch nicht viel darum kümmerte. Ihr war in der Freude am Tanzen alles Andere untergegangen, und mit vollster Seele gab sie sich dem ihr so neuen Vergnügen hin. Es war das erste Mal, daß das junge Mädchen überhaupt in eine größere Gesellschaft kam, daß sie aus der „Kinderstube“, in die der strenge Bruder sie verwiesen, in den Salon trat, und entzückt und geblendet blickte sie in die fremde glänzende Welt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_054.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)