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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 3.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Am Altar.


Von E. Werner, Verfasser des „Helden der Feder“.


(Fortsetzung.)


Die große, aus mehreren nebeneinanderliegenden Gütern bestehende Herrschaft Dobra war fast ein Jahrhundert lang in den Händen einer alten, reichen Adelsfamilie gewesen. Aber der Reichthum hatte mit der Zeit mehr und mehr abgenommen, und endlich war der letzte Rest desselben durch schlechte Bewirthschaftung und unsinnige Verschwendung, die, wie das meist zu geschehen pflegt, mit äußeren Unglücksfällen Hand in Hand gingen, dahingeschmolzen. Der letzte Graf Seltenow vermochte die über und über verschuldeten Besitzungen nicht mehr zu halten, und da bei dem notorisch schlechten Zustande derselben und den Anforderungen der Gläubiger, die sofortige Deckung verlangten, sich lange Zeit hindurch kein Käufer fand, so gelangten sie endlich für einen Preis, welcher allerdings gleichbedeutend mit dem Ruin des Grafen war, in die Hände eines Fremden, der wie vom Himmel geschneit plötzlich mitten unter die Großgrundbesitzer des Landes fiel, die in dieser Gegend ausschließlich aus dem hohen Adel und der Geistlichkeit bestanden.

Man wußte von diesem Günther eigentlich nichts weiter, als daß er bürgerlich und protestantisch sei; aber diese beiden Eigenschaften waren hinreichend für die gesammte Nachbarschaft, um sofort Front gegen ihn zu machen. Er ward als nicht umgangsfähig erachtet, und man beschloß, ihm dies bei der ersten Gelegenheit ein für alle Mal fühlbar zu machen.

Leider blieb diese so sicher erwartete Gelegenheit gänzlich aus, denn der neue Besitzer unternahm auch nicht das Geringste, was einem Annäherungsversuche ähnlich sah. Er machte weder die üblichen Besuche, noch suchte er überhaupt Umgang, ignorirte vielmehr die ganze vornehme Nachbarschaft so vollständig und beharrlich, daß diese ganz folgerichtig anfing, sich jetzt mit ihm zu beschäftigen, und in der That bot Dobra ihr Anlaß genug dazu, denn die neuen Schöpfungen wuchsen dort in nie geahnter Schnelle und Großartigkeit förmlich aus der Erde hervor. Der neue Gutsherr entwickelte eine so rastlose Thätigkeit, einen so riesigen Unternehmungsgeist und verfügte dabei augenscheinlich über so bedeutende Geldmittel, daß das anfängliche Achselzucken sich allmählich in Neugierde, dann in Staunen und zuletzt in Bewunderung verwandelte. Dazu kam, daß die ganz neue Art der Bewirthschaftung in dem Boden und den Wäldern Dobras Reichthümer zu Tage förderte, die Niemand dort geahnt und folglich auch Niemand nutzbar gemacht hatte; kurz, noch war kein Jahr vergangen, da hatte sich die Sachlage total verändert und es konnte den Gütern, denen man achselzuckend auch den Ruin des jetzigen Besitzers prophezeit, eine bedeutende Zukunft nicht abgesprochen werden.

Günther hatte in der That Recht, wenn er seine Güter „eingekeilt zwischen Clerus und Aristokratie“ nannte: das Gebiet des Stiftes einerseits und das von Schloß Rhaneck andererseits grenzten unmittelbar daran, allerdings die vornehmste Nachbarschaft der ganzen Umgegend, denn die beiden Grafen, welche den Namen Rhaneck trugen, der Prälat und der jetzige Majoratsherr, nahmen dort unbestritten den ersten Rang ein. Es war ein altes, reiches und mächtiges Geschlecht, dem sie entstammten, und es hatte sich, im Gegensatz zu manchen anderen Standesgenossen, die in der Neuzeit und an ihr zu Grunde gingen, diese Macht und diesen Reichthum zu bewahren gewußt, Dank einem alten Familiengesetz, das die Heirathen der jedesmaligen Stammhalter in einer Weise vorschrieb und regelte, die den Glanz des Hauses, das zu vertreten sie berufen waren, nur noch mehr hob und befestigte. Auch Graf Ottfried hatte sich diesem Herkommen gefügt, oder fügen müssen, bei seiner Vermählung, die ziemlich spät erfolgte. Als jüngster Sohn des Hauses hatte er keinen Anspruch auf die Familiengüter und stand als Officier im Dienste eines anderen Staates, als der plötzliche und unerwartete Tod seines ältesten Bruders – der zweite war von Kindheit an der Kirche geweiht und hatte bereits die Klostergelübde abgelegt – ihn zum Majoratsherrn machte. Kurze Zeit darauf heirathete er und zwar eine der reichsten und vornehmsten Erbinnen des Landes. Es war eine Convenienzehe, die, von beiden Seiten ohne Neigung und ohne Widerwillen geschlossen, beide gleich kalt ließ, aber über etwaige Differenzen half die vornehme Art zu leben hinweg. Man erwies sich vor der Welt die nöthigen Rücksichten, im Uebrigen ging ein jedes von den Gatten seinen eigenen Weg, und man war und blieb sich fremd, ohne jemals einander nahe zu kommen. Von mehreren Kindern, die alle im zarten Alter starben, war nur eins übrig geblieben, der junge Graf Ottfried, der als dereinstiger Majoratsherr und Erbe von Rhaneck schon jetzt eine bedeutende Rolle spielte und gegenwärtig als Officier in der Residenz stand, wo auch sein Vater, der längst aus dem fremden Dienst in den seines eigenen Souverains übergetreten war, eine hervorragende und einflußreiche militärische Stellung einnahm.

Letzteres war auch der Grund, weshalb die gräfliche Familie den größten Theil des Jahres in der Residenz zubrachte, Rhaneck

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_037.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2018)