Seite:Die Gartenlaube (1872) 035.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

van Amburg’s ist ein kleiner dicker Mann, aber noch heute in einem Alter von einigen siebenzig Jahren – wie ich mich selbst vor nicht gar langer Zeit davon zu überzeugen Gelegenheit gehabt – so feurigen Wesens und so durchbohrenden Blickes, ganz besonders wenn er von seinen Löwen und Tigern spricht, daß man bei seinen begeisterten und begeisternden Erzählungen sich selbst unter einem gewissen Bann zu fühlen vermeint.

Gemeinhin nimmt man an, daß Thierbändiger selten ihren Bestien nur soweit trauen, auf Momente selbst die Augen von ihnen abzuwenden, und ganz besonders beim Verlassen des Käfigs diese Vorsicht nie gern versäumen. Aber auch das ist nicht zutreffend. Schon manchen Thierbändiger habe ich gesehen, der in seiner bedenklichen Gesellschaft sich ebenso bewegte, als wenn er von seinen trautesten Freunden umgeben wäre. In entscheidenden Momenten freilich und bei wenig erprobten Thieren wird natürlich auch von solcher Waffe Gebrauch gemacht. Ein jedes Thier hat, wie der Mensch, auch seine Laune, seine Sympathien und Antipathien, und diese zu verstehen und zu umgehen, das ist hier wie dort, Menschen wie Thieren gegenüber die schwierige Kunst des Umgangs. Einzelne Ungethüme scheinen allen Künsten ihrer Herren unzugänglich. Damit ist nun nicht gerade gesagt, daß dieselben überhaupt unzähmbar seien. Im Gegentheil, Löwen und Tiger gingen aus der Hand des einen ganz vortrefflichen Thierbändigers in die eines andern über, angeblich als völlig unzähmbar, wurden aber dem neuen Herrn folgsam und werthvolle Schaustücke.

Martin pflegte mit seinen Thieren nicht lange vergebliche Versuche zu machen. Gelang es ihm nicht innerhalb der ersten Wochen, dem Thiere das Verständniß seines Wohlwollens und seiner Ueberlegenheit beizubringen, so gab er die Hoffnung auf. Zuweilen kam es vor, daß er schon am zweiten oder dritten Tage sich in den Käfig eines neuangekommenen Thieres wagte. Auf meine Frage, ob er nicht dabei bisweilen eine Anwandelung von Grauen habe, war die einfache Antwort, daß er nie zu einem Thiere gehen würde, ohne dessen gewiß zu sein, daß die Bestie von der Ueberlegenheit ihres Gebieters durchdrungen sei. Dies möglichst unfehlbar zu beurtheilen, das war eben seine Kunst.

Man denke aber ja nicht, daß menschliche Verstellung, mit der mir unseres Gleichen wohl blenden, hinreichend ist, Thiere zu täuschen. Merkt doch unser Haushund genau, ob eine böse Miene oder ein strenges Wort seines Herrn ernstlich gemeint ist oder nicht. Unfehlbar spürt er den leisesten Schein der Unwahrheit in unserem Gebahren heraus.

Ebenso und noch mehr wittern die urwüchsigen Naturen jener Thiere unter etwa erkünsteltem Muthe die feige Menschenseele durch und, zum Bewußtsein ihrer Ueberlegenheit kommend, werden sie durch ärmlichen Scheinmuth des Gegners nicht in Schranken gehalten werden können. Oberste Bedingung ist also unerschütterliches Selbstvertrauen oder, wie Martin in seiner ihm eigenen Sprache sich ausdrückte: „Der Artikel Furcht ist in meinem Lexikon nicht zu finden!“

Freilich ist man damit noch lange nicht gegen alles Ungefähr gesichert; Ausfälle übler Laune erzeugen auch bei Thieren Blindwüthigkeit, und alsdann kann es höchst bedenklich werden, ihnen zu nahen. Solche Momente waren es, wo selbst anerkannt tüchtige Thierbändiger, wie van Amburg, Charles und Andere zum Opfer fielen.

Auch Martin, wie ich aus seinem eigenen Munde vernommen, sah sich bei einer seiner Schaustellungen in Paris genöthigt, mit seinem Löwen, wie der Kunstausdruck sagt, zu „arbeiten“, obgleich er von bösen Ahnungen erfüllt die Bühne betrat. Sein Kennerblick hatte sofort herausgefunden, daß das Thier heute nicht zum Spielen aufgelegt war. Trotzdem, seiner Ehre und dem zahlreich versammelten Publicum zu Liebe, wagte er es auch heute. Der Zwinger öffnet sich, der Löwe tritt vor, dumpfbrüllend wie so oft schon die beifallklatschenden Pariser entzückend.

Diesmal aber sollte des Thieres Annäherung, sein Niederducken nicht Liebe, nicht Demuth bedeuten; ein mächtiger Satz, der Löwe faßt Martin am Schenkel, trägt ihn triumphirend über die Bühne und läßt ihn am Eisengitter niederfallen. Martin rafft sich auf, rafft seine ganze Kraft, seine ganze Geistesgegenwart zusammen, stürmt, so gut es eben gehen will, auf den in der Ecke lauernden, zu erneuertem Sprunge bereits ausliegenden Löwen los und züchtigt ihn für die Frevelthat. Der Löwe erkennt sein Unrecht und windet sich schweifwedelnd, um Gnade flehend, zu seines Herrn Füßen. Martin’s Genesung schritt nur sehr langsam vorwärts und schon berieth man, das schrecklich verwundete Bein zu amputiren. Das Publicum hatte hinreichende Zeit, sich in allerlei Vermuthungen für und wider zu ergehen. Auch ein wettsüchtiger Engländer fand sich, der tausend Pfund Sterling einsetzte, daß Martin, falls er wieder seinem Thiere sich anvertrauen sollte, über kurz oder lang demselben zum Opfer fallen würde. Glücklich kam Martin nach sechs Monaten soweit, seine Schaustellungen von Neuem zu beginnen, und fortan heftete sich jener Engländer ihm an die Ferse. Tag für Tag saß er zur bestimmten Stunde im Circus auf dem von ihm abonnirten Platze, eifrig mit Lesen von Zeitungen beschäftigt, die er nur dann aus der Hand zu legen pflegte, wenn Martin zu seinem Löwen ging. Und dieser ging zu ihm; denn er glaubte psychologisch richtig, gerade nach jenem Vorfalle, wo er doch schließlich als Sieger das Feld verlassen, auf das Thier um so sicherer zählen zu dürfen.

Erwartungsvoll saß so der Engländer Abend für Abend da – es handelte sich ja um die Ehre, Recht zu haben, und nebenbei um tausend Pfund – mit gekreuzten Armen, kein Auge von dem Schauspiel verwendend. Mehrere Monate lang freute sich Martin der auf sein Leben gestellten Wette. Sie trug nicht wenig dazu bei, seinen Vorstellungen für die große Menge einen ganz besonderen Reiz zu geben. War doch Jeder, so gut wie der wettende Engländer von der Ueberzeugung durchdrungen, daß Martin früher oder später der Bestie zur Beute fallen würde.

Schließlich mochte aber doch der Mann mit dem frommen Wunsche im Herzen unserem Martin ein Gräuel und in manchen Augenblicken etwaiger Widerspenstigkeit seines Löwen wie ein Memento mori vorgekommen sein. Um daher den lästigen Gast loszuwerden, machte ihm der Thierbändiger folgendes Anerbieten. Der Löwe sollte verurtheilt werden zweimal vierundzwanzig Stunden zu hungern. Alsdann hatte Martin zu ihm zu gehen, ihm ein Stück Fleisch zu reichen, dasselbe aber, sobald die hungrige Bestie mit Gier darüber hergefallen sein würde, wieder aus dem Rachen herauszureißen. Der Engländer versprach für den Fall des Gelingens an Martin tausend Pfund zu zahlen und damit von seiner früheren Wette abzustehen. Termin und alles Nähere war verabredet und festgesetzt. Die Vorstellung nahte, die Billets waren schon seit Wochen vergeben und deren Preise aus einer Hand in die andere um das Zehn- und Zwanzigfache gestiegen.

Der Engländer hatte zweimal vierundzwanzig Stunden bei dem Löwen Wache gehalten, um seiner Sache sicher zu sein, daß das Thier auch wirklich die bestimmte Zeit über fasten werde. Martin trat zu dem ausgehungerten Thiere ein und reichte ihm ein Stück Fleisch. Gierig fiel der Löwe über den Fraß her. Triumphirend blickte Martin über die athemlose Versammlung hin und warf dem Engländer, seinem Plagegeist, einen höhnenden Blick zu. Doch das Schwierigste der Aufgabe war noch nicht abgethan. Martin beugt sich zu dem Thiere nieder und auf sein einfaches Commando „à moi!“ (mir her!) läßt der Löwe seine Beute los. Mit dem Fleisch in der Hand, seinen Löwen zur Seite gekauert, der natürlich mit gierigem Blick jeder Bewegung seines Herrn folgt, ruft Martin das ganze anwesende Publicum zum Schiedsrichter auf. Unter stürmischem Applaus wird er als Sieger gefeiert. Jetzt empfängt der Löwe sein Fleisch zurück und Martin verläßt unangefochten den Käfig. Der Held wurde ob dieser Verwegenheit übermäßig gepriesen, strich seine tausend Pfund ein und war seines lästigen Gastes ledig.

Nun aber den Schlüssel zum Räthsel, wie ich ihn aus Martin’s Munde selbst erfahren. Durch ein einfaches Manöver hatte er seinen Löwen dahin gebracht, auf jedesmaliges Commando „à moi!“ die eben empfangene Beute loszulassen. Vier Wochen hintereinander tagtäglich begab sich der Thierbändiger zu seinem Löwen, in jeder Hand ein Stück Fleisch. Das eine schlecht, Haut, Knochen und Sehnen, wurde dem Löwen zuerst gereicht. So wie er sich anschickte, dasselbe zu zerreißen, wurde ihm das andere Stück Fleisch, ein schönes Rippenstück vorgehalten, während Martin das zuerst dargereichte unter stetem Zuruf seines „à moi!“ erfaßte und wegzog. Das Thier, mit dem Tausch zufrieden, hatte sich schließlich gewöhnt, auf des Herrn Wort seine Beute loszulassen, darum weil es recht gut wußte, dabei nicht zu kurz zu kommen.

Nicht rohe Gewalt ist es, womit der Mensch die ihm überlegenen Thiere zwingt, noch sonst ein Geheimmittel. Ganz vor Allem ein auf gegenseitiges Verständniß begründetes gegenseitiges

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_035.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)