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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Der Wundermann auf der G-Saite.


Musikalische Erinnerung aus Weimar von J. C. Lobe.


(Schluß.)


Außer diesen Fabeln war von Paganini’s Charakter und Privatleben bis zu seiner Ankunft in Deutschland wenig oder nichts bekannt. Von da an aber wählte er sich zeitweise Gesellschafter, die ihn auf seinen Reisen begleiteten und seine Geschäfte besorgten. Einer derselben, der hannoversche Literat Georg Harrys, hat längere Zeit ein genaues Tagebuch darüber geführt, aus welchem wir interessante Einblicke in die Gewohnheiten und Eigenheiten Paganini’s gewinnen.

Künstler haben in der Regel viel Sinn für die Natur. Paganini machte eine große Ausnahme. Mochte er auf seinen Reisen durch die blühendste Landschaft, an den schönsten Villen und Schlössern vorüberfahren, durch die romantischsten Gegenden kommen, er nahm keine Notiz davon, sie hatten keinen Reiz für ihn. Sprach er nicht, so dachte er an seine Kunst, an seine Composition, oder verfiel in melancholisches Sinnen. Er konnte auch nicht um sich schauen, weil er, stets fröstelnd, den Wagen rings um sich her fest verschlossen hielt. Gleich dem Minister Kaunitz, der sich vor jedem Lüftchen ängstlich hütete, saß Paganini bei zweiundzwanzig Grad Wärme in seinen Pelz gehüllt, alle Wagenleder zugehakt, in seinen Winkel gekauert, und erlaubte seinem Begleiter kaum, die Seite, wo er saß, zuweilen zu lüften. Auf das deutsche Klima schimpfte er immerwährend, er schrieb ihm einen großen Theil seiner körperlichen Leiden zu, die er doch aus Italien schon mitgebracht. Oft sagte er zu Harrys, wenn er sich in seinen Pelz einhüllte: „Das ist ein vortreffliches Möbel in Deutschland, ohne welches man nicht reisen kann, selbst mitten im Sommer“. Merkwürdigerweise saß er dagegen in seinem Zimmer am liebsten zwischen offenen Thüren und Fenstern, was er „ein Luftbad nehmen“ nannte. Die häufigen Erkältungen, die er sich dadurch zuzog, haben seine Kränklichkeit am meisten befördert.

Wie alle kränklichen Personen, liebte Paganini den Schlaf; im Reisewagen schlief er oft zwei Stunden hintereinander, und dies dreimal des Tages. Dann war er nach dem Erwachen heiter, gesprächig, ja zu Scherzen aufgelegt.

An der Station angekommen, blieb er in seinem Wagen oder promenirte, während man die Pferde fütterte und wechselte, aber er trat niemals in ein Wirths- oder Posthaus, bevor er an dem Orte angekommen, den er als Ziel seiner Reise bestimmt hatte.

Sein Gepäck machte ihm wenig Sorge. Das Kostbarste für ihn, sein Instrument, ein Guarneri, lag in einem sehr abgegriffenen und abgeschabten Kasten, in dem er zugleich die Schatulle, einige kleine Pretiosen und etwas feine Wäsche aufbewahrte. Seine ganze Garderobe hätte ein Handwerksbursche bequem in seinem Ränzel tragen können. Seine Gesammtpapiere, wichtiger als die manches reisenden Geschäftsmannes, waren in ein rothes Büchlein eingeschlossen. Dieses, obwohl nur aus einigen zwanzig losen Blättchen bestehend, enthielt doch das Resultat aller seiner Geschäfte, seitdem er aus Italien nach Deutschland gekommen war. Das waren aber Hieroglyphen, die Niemand als er zu enträthseln vermochte. Da lag alles untereinander geworfen, Wien und Karlsruhe, Frankfurt und Leipzig, Einnahmen und Ausgaben, Postpferde und Concertbillets, und doch fand er sich bewundernswerth in dieses Labyrinth, und verrechnete sich selten zu seinem Nachtheile, obgleich er im Rechnungsfache ganz unerfahren war.

In den Gasthäusern auf seinen Reisen war Paganini mit Allem zufrieden, was er vorfand, es war ihm einerlei, ob man ihm ein Dachstübchen oder ein Putzzimmer, ein gutes oder schlechtes Bett anbot, nur mußte seine Wohnung im Hinterhaus liegen, da ihm der Straßenlärm gänzlich zuwider war. „Ich muß in dem großen Städten Geräusch genug aushalten,“ sagte er, „auf der Reise will ich Ruhe haben.“

Kutscher, Hausknechte, überhaupt Leute niederer Classe behandelte Paganini sehr geringschätzig und würdigte sie keines Blickes. Redete ihn ein solcher Mensch einmal zufällig an, so drehte er ihm den Rücken zu, und fragte seinen Begleiter: „Was will denn das Geschöpf von mir. Wer ist denn das Vieh?“ Auf die Versicherung seines Begleiters, daß die Leute hier zu Lande höchst gutmüthiger Natur wären, erwiderte er: „Ei was, so ist die Canaille durchweg“.

Am Ziel angekommen, konnte der streng bewachteste Staatsgefangene kein monotoneres und langweiligeres Leben führen, als der große Meister in seinem Zimmer. Nichtsdestoweniger verließ er dasselbe nur selten und ungern, da er sich in der absoluten Einsamkeit am behaglichsten zu befinden schien. –

Sänger und Virtuosen müssen ihre Künste mühsam erringen und durch täglich mehrere Stunden wiederholte Tonleitern, Solfeggien und Uebungen schwerer Stellen Stimme oder Finger geschmeidig und gelenkig zu erhalten suchen. Aber auch darin war dieser wunderbare Mann eine fast unglaubliche Ausnahme. Es ist erwiesen, daß auf allen seinen Reisen Niemand aus seinem Zimmer heraus einen Geigenton vernommen, als etwa das Stimmen der Violine, und das nur an Concerttagen, wenige Augenblicke vor der Probe oder vor dem Concerte selbst. Paganini machte auch gar kein Hehl daraus, daß er seine Geige nicht anders anrühre, als wenn er müsse; „ich habe genug im Leben geübt und bin froh, wenn ich die Geige nicht aus dem Kasten zu nehmen brauche,“ sagte er.

Da Paganini daheim gänzlich unbeschäftigt blieb, dürfte man glauben, daß er die Zeit zum Componiren benutze. Aber auch dies war nicht der Fall. Die Werke, Concerte, Variationen etc., womit er auf seinen Reisen auftrat, hatte er alle in Italien verfertigt, und nicht ein einziges neues Product auf seinen Reisen zu Tage gefördert.

Von Belesenheit war bei ihm keine Rede, da er außer seiner Muttersprache nur ein wenig Französisch verstand, alle anderen Sprachen ihm fremd waren und er zur Lectüre keine Neigung hatte. Er machte auch gar kein Hehl daraus, wenigstens gegen seinen Begleiter nicht, daß er gar keine wissenschaftliche Bildung besitze. Seine Entschuldigung war: „Man kann nur eine Wissenschaft gründlich erlernen. Meine ganze Lebenszeit habe ich meiner Geige und der Theorie der Musik gewidmet, und keine Zeit für andere Wissenschaften übrig gehabt.“ Eine lange Reihe von Jahren hat Paganini täglich zehn bis elf Stunden gegeigt. Ebenso wenig hatte er Sinn für andere weltliche Dinge; an den politischen Ereignissen nahm er keinen Theil; die ungeheuersten Erscheinungen und Wandlungen in der Weltgeschichte, der Fall der mächtigsten Existenzen, der Gedanke an Napoleon’s Sturz, der Aufstand und die heroischen Thaten der Griechen, oder der Gedanke an sein zerrissenes ohnmächtiges Vaterland machten weniger Eindruck auf ihn, als eine platzende Saite seiner Geige während des Spiels vor dem Publicum.

Diese äußerste Einseitigkeit seines Geistes aber, dieses Fixiren auf nur das Eine, sein Violinspiel, machte ihn zu dem größten Virtuosenphänomen, das die Welt je gesehen.

Im Ganzen war Paganini Melancholiker, wie wohl die meisten, denen gesunde Tage eine Seltenheit sind. Der kranke Körper ist ein trübes Fenster, durch welches der Geist keine heitere Welt erblicken kann. Doch hat auch der Melancholiker Momente des Frohseins und namentlich des Humors. So konnte Paganini, wenn er mit einigen Bekannten zusammentraf, der redseligste und amüsanteste Gesellschafter sein. Er erzählte dann vorzugsweise Anekdoten aus seinem Leben, die er sehr pikant und humoristisch vorzutragen verstand. Von großen Gesellschaften, Gastessen war er ein abgesagter Feind, und es bedurfte stets der Ueberredung, um ihn aus seinem Zimmer zu bringen, um eine Einladung anzunehmen. Dann sprach er bei Tische wenig, genoß aber desto mehr. Bei der größten Gasterei ließ er selten eine Speise ungekostet. Sein Appetit war einer der stärksten; er konnte mehrere Stunden fortwährend essen, ohne die geringsten Beschwerden davon zu haben, und war auch dem Gott Bacchus nicht abgeneigt. Dabei war er gewöhnlich so zerstreut, daß er selten wußte, was er, und ob gut oder schlecht genossen hatte. Am Gespräch nahm er wenig Theil. Nach aufgehobener Tafel entfernte er sich bald, um seine Siesta zu halten. In Abendgesellschaften, wo es ungezwungener herging, war er zugänglicher; wollte man sich aber über Musik

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_031.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)