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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Da sah sie nun allerdings, daß es ein Mensch war, der dort drüben stand, ein Mann in langem geistlichem Talar, der bisher im Moose gelegen und von dort aus vermuthlich den ganzen Spaziergang durch den Gießbach mit angesehen hatte. Das Buch, in dem er gelesen, lag noch am Boden, er selbst aber stand mit verschränkten Armen und blickte düster und unverwandt auf sie hin.

Also ein Geistlicher, der wahrscheinlich seine Predigt einstudirte, und der hatte sie so erschreckt! Luciens ganzer Uebermuth kam zurück; ohne sich weiter um den fremden Zuschauer zu kümmern, der ihr jetzt ganz und gar kein Interesse mehr einflößte, begann sie eine gründliche Plünderung des Himbeergesträuches und schickte sich dann an, den Weg, den sie gekommen war, wieder hinabzusteigen.

Jetzt aber mußte sie bei dem Fremden vorüber, er stand noch immer wie angewachsen, ohne sich zu regen, und dabei stand er gerade auf einem der großen Steine, die den Pfad durch den Bach bildeten. Der unhöfliche Mann dachte nicht daran, auch nur einen Schritt zur Seite zu treten, trotzdem er doch sah, daß sie hinab wollte. Lucie begann sich über diese Rücksichtslosigkeit zu ärgern, sie setzte nachdrücklich ihr Füßchen in’s Wasser, daß es hoch aufspritzte, um ihm begreiflich zu machen, wie sehr störend ihr sein Standpunkt sei, und warf ihm einen ihrer allerungnädigsten Blicke zu.

Dabei begegnete sie aber zum zweiten Male seinen Augen, die noch immer unbeweglich auf ihrem Antlitz ruhten, gerade so starr und düster wie vorhin. Es mußte doch etwas Gespensterhaftes in dem Manne sein, denn dem jungen Mädchen ward auf einmal glühend heiß unter diesem seltsamen Blick, die ganze vorige Angst kam verdoppelt zurück, sie wünschte sich weit weg in die schützende Nähe des Bruders und doch stand sie wie gefesselt von einer fremden Macht und wagte keinen Schritt vor- oder rückwärts zu thun. So vergingen in paar beängstigende Secunden, da endlich wich der unheimliche Fremde langsam zur Seite, er gab den Weg frei und wie ein gescheuchtes Reh flog Lucie an ihm vorüber, den Bach hinab, und in den Wald hinein.

Hier kam ihr Bernhard, durch ihr langes Außenbleiben beunruhigt, bereits entgegen. „Sind das etwa die gewünschten zwei Minuten? Du scheinst wirklich – aber was hast Du denn, Kind, Du siehst ja ganz verstört aus!“

Lucie hing sich fest an seinen Arm, jetzt, wo sie sich geschützt wußte, brach der alte Uebermuth schon wieder durch, sie warf noch einen scheuen Blick zurück nach der Schlucht, aber es zuckte bereits schelmisch um ihre Lippen, als sie antwortete:

„Ich bin dem Währwolf begegnet, von dem es in den Märchen heißt, daß er in Menschengestalt umgehe! Drüben stand ein Mann, so finster und unheimlich, er trug einen langen schwarzen Talar –“

„Das wird einer von den Mönchen des Stiftes gewesen sein,“ meinte Bernhard gleichgültig. „Die Herren Benedictiner pflegen zwar sonst nicht gerade die einsamen Waldgründe aufzusuchen, wenn sie sich außerhalb des Klosters amüsiren! – Das Ordenskleid also hat Dich so erschreckt?“

Lucie sah zu Boden und schüttelte den Kopf. „Nicht das Kleid,“ sagte sie leise, „der Blick war es. Er hatte so seltsame Augen, wahre Gespensteraugen!“

Das Spottlächeln von vorhin erschien wieder auf dem Gesicht des Bruders. „Dein Heroismus scheint nur den Gouvernanten gegenüber zu existiren! Noch vor einer Viertelstunde prahlst Du damit, Dein ganzes Pensionat in Schach gehalten zu haben, und jetzt läufst Du vor einem Mönchsgewand und einem Paar Mönchsaugen davon. In der That, eine rechte Heldenseele, die ich da in meiner Schwester entdecke!“

Lucie wollte auffahren und sich eifrig gegen den Vorwurf vertheidigen, aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen; denn in diesem Augenblick traten sie aus dem Walde auf die Höhen hinaus, und eine prachtvolle Gebirgslandschaft rollte sich vor ihren Blicken auf. Rauschend schoß der Bergstrom durch ein weites offenes Thal, im hellsten Sonnenstrahl schimmerten Flecken, Dörfer und einzelne Gehöfte, theils am Strome, theils am Bergeshang zerstreut liegend, von nah und fern herüber, dazwischen leuchtete das sonnige Grün der Matten, die ringsum all die tiefer gelegenen Höhen umkränzten, und darüber hinaus strebten dunkle Tannenwälder höher und höher an den Bergwänden empor, bis zum Gipfel hinauf. Im Vordergrunde lag ein Schloß, eine malerische alte Bergveste, die gerade hinab zum Strom blickte, aber so kühn es sich auch auf seinem Felsen hob, und so trotzig die grauen Erker und Söller aus dem Tannengrün hervorschauten, es trat doch zurück vor dem mächtigen, schloßartigen Gebäude, das sich ihm gegenüber auf einer Anhöhe ausdehnte, von weiten Gärten umgeben, mit Mauern und Pfeilern, die wie für die Ewigkeit gegründet schienen, mit langen Fensterreihen und zwei prachtvollen Thürmen über dem Hauptportal. Die Sonnenstrahlen fielen mit vollster Kraft auf die leuchtend weißen Mauern; vom hellsten Mittagsglanz umflossen lag die Benedictinerabtei stolz und mächtig da, weithin das Thal beherrschend, die Krone und der Mittelpunkt des ganzen herrlichen Landschaftsgemäldes, und über das alles hinaus hoben sich die riesigen Häupter des Gebirges, von blauem Duft umwoben, und ragten ernst und gewaltig hinein in die sonnige Welt.

Lucie war überrascht stehen geblieben, nur ein lautes Ah der Bewunderung entfuhr ihren Lippen, dann blieb sie regungslos im Anschauen versunken, Bernhard beugte sich zu ihr nieder.

„Nun, Lucie, wirst Du hier Deine engen Residenzstraßen, Deine hohen Häuser und den ummauerten Pensionsgarten vermissen? Ich denke nicht.“

Das junge Mädchen fuhr aus dem athemlosen Schauen auf bei dieser Anrede, sie schlang plötzlich ihre beide Arme um den Hals des Bruders und rief mit der ganzen stürmischen Freude eines Kindes: „O, ich habe nicht gewußt, daß die Welt so schön ist!“

Bernhard lächelte. „Du hast freilich noch nichts davon gesehen, als nur unsere märkischen Haiden. Sieh dort hinüber, dort liegt Deine künftige Heimath, und jetzt laß uns eilen, daß wir sie endlich erreichen, es ist hohe Zeit!“

Er hob sie in den bereits wartenden Wagen und nahm an ihrer Seite Platz, ein Druck mit dem Zügel, und die ungeduldigen Thiere griffen aus; dahin rollten sie, dem Thale zu, hinein in die Berge.




„Ist Pater Benedict schon zurückgekehrt?“

„Noch nicht, Euer Gnaden!“

„Er soll sofort nach seiner Ankunft benachrichtigt werden, daß ich ihn zu sehen wünsche, und daß der Herr Graf Rhaneck ihn hier erwartet.“

Der Kammerdiener schloß die Thüren und entfernte sich, den soeben erhaltenen Befehl auszuführen; die beiden Herren, welche sich im Arbeitszimmer des Prälaten befanden, blieben mit einander allein.

Es war ein großes, mit fürstlicher Pracht eingerichtetes Gemach. Die schweren purpurrothen Seidenvorhänge des hohen Bogenfensters wehrten, zur Hälfte herabgelassen, den glühenden Strahlen der Mittagssonne den Eingang. An einem Tisch, der mit kostbarem Schreibgeräth, mit Briefschaften und Papieren aller Art bedeckt war, saß der Prälat im reichvergoldeten, mit dunklem Sammet überzogenen Lehnstuhl, während Graf Rhaneck von seinem Sitze ihm gegenüber aufgestanden war, und mit raschen, etwas ungeduldigen Schritten das Zimmer durchmaß.

Es war nicht schwer, in den Beiden gleich beim erstens Blick zwei Brüder zu erkennen, die Aehnlichkeit zwischen ihnen trat deutlich genug hervor: dieselbe hohe, imponirende Gestalt, dieselben großen blauen Augen, derselbe Schnitt des Gesichtes, mit dem gleichen Ausdruck eines unnahbaren Stolzes. Es waren offenbar Familienzüge, die Züge eines edlen, kräftigen Geschlechts, die sich in diesen regelmäßigen Linien wiederholten, und vielleicht war sie auch unter den Rhanecks erblich, jene eigenthümliche Linie auf der Stirn, gerade zwischen den Augen, die, in ruhigen Momenten kaum sichtbar, sich bei jeder Erregung zu einer drohenden Falte vertiefte, ein Zug von Härte, ja von Grausamkeit, der, wenn er erst einmal hervortrat, das Antlitz fast entstellte und ihm einen ganz anderen Charakter lieh.

Aber trotz aller Aehnlichkeit waren die Brüder doch verschieden genug von einander. Auf dem Gesicht des Prälaten lag kalte leidenschaftslose Ruhe, die Augen blickten so scharf und durchdringend, als seien sie gewohnt, Alles und Jedes, was ihnen nahte, bis in die innersten Tiefen hinein zu durchschauen und zu ergründen; die Haltung war ernst und gemessen und das bereits

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_022.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)