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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 2.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Am Altar.
Von E. Werner, Verfasser des „Helden der Feder“.
(Fortsetzung.)


Es war allerdings ein schattiger und lieblicher Fußweg, den Beide jetzt einschlugen, aber für Lucie schien er nur da zu sein, um ihn in allen möglichen und unmöglichen Windungen zu umkreisen. Wie ein junges Reh, das der Gefangenschaft entflohen und der Waldesfreiheit zurückgegeben ist, so sprang sie dahin, das ging immer mitten durch Gebüsch und Haidekraut, ohne nach Weg und Steg zu fragen. Jetzt lief sie einem Schmetterlinge nach, um in der nächsten Secunde drüben auf der entgegengesetzten Seite ein Eichhörnchen aufzujagen, oder eine Blume zu pflücken. Bald hier, bald dort sah Bernhard den blauen Schleier ihres Hutes zwischen den Bäumen aufflattern, und dann wehte er wieder dicht neben ihm, wenn sie athemlos an seiner Seite kam, beide Hände voll Blumen; dabei plauderte der kleine Mund unaufhörlich und floß über von Fragen und Neckereien, sie war zu glückselig.

„Nun aber ist’s genug!“ sagte Bernhard endlich und zog ihre Arme in den seinigen. „Jetzt bleibst Du an meiner Seite, dort drüben ist bereits der Ausgang des Waldes, wo der Wagen uns erwartet.“

„Schon? O laß mich nur noch einen Blick in die Schlucht dort thun, nur einen einzigen! Ich muß durchaus wissen, wo der kleine Bach herkommt, der dort drüben plätschert; in zwei Minuten bin ich wieder zurück.“

Und fort war sie, Bernhard sah den blauen Schleier bereits wieder drüben an der Felswand flattern und in der nächsten Minute dahinter verschwinden.

„Nun Gott sei Dank, eine geschraubte Modedame wenigstens hat die Pension nicht aus ihr gemacht! Das ist noch ganz das Kind, das ich vor vier Jahren dorthin brachte,“ sagte er, mit dem Ausdruck tiefster Befriedigung ihr nachblickend, und blieb geduldiger, als es wohl sonst seine Art war, stehen, um ihre Rückkehr zu erwarten.

Lucie hatte inzwischen die Schlucht erreicht und blickte neugierig hinein; es war ein reizendes Stück Waldeinsamkeit, das sich hier vor ihren Blicken aufthat. Rauschend und silberhell kam der Bach von der Höhe herab und stürzte, über glatte Kiesel und moosige Steine, an dunklen Felswänden vorüber, in den Wald hinein. Darüber wölbten sich hohe Buchen und dazwischen grünte weiches Moos und rankte sich blühendes Gesträuch – es war ein Ort, so recht zum Träumen und Sinnen geschaffen, aber gerade dies lag der jungen Dame himmelweit entfernt. Ihr erster Blick galt dem Orte selbst, ihr zweiter einem Himbeerstrauch, der, in der Felswand wurzelnd, mit einer Fülle dunkelrother Beeren über den Bach hinaushing. Das sehen und einen unbezwinglichen Appetit danach verspüren, war für Lucie Eins; vergessen war das Versprechen, sogleich zurückzukommen, vergessen das drohende Stirnrunzeln des Bruders. Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, trat sie sofort den Weg nach der Felswand an; daß er mitten durch den Bach ging, kümmerte sie durchaus nicht. Ihr Kleid zusammennehmend, sprang sie leicht wie eine Elfe von Stein zu Stein. Das Wasser rieselte unter ihren Füßen und durchnäßte völlig die beiden Residenzstiefelchen, die für Spaziergänge im Gießbach wohl nicht berechnet waren, aber das erhöhte nur ihr Vergnügen; sie lachte laut auf, wenn die hellen Wassertropfen emporspritzten oder das niederhängende Gezweige ihre Stirn streifte. Der kleine Strohhut hatte sich schon beim ersten Schritt als zu lästig erwiesen, er hing am Arme und mußte einstweilen die duftende Fülle der im Walde gepflückten Blumen bergen; die Locken, von keinem Bande mehr gehalten, wehten lose um Hals und Schultern; dabei ging es vorwärts, über Felsgeröll, Baumwurzeln und Wassersturz, immer aufwärts, den Bach hinauf. Je schwieriger der Weg, desto größer wurde der Eifer, das junge Mädchen war nur eine Jugendlust, ein jubelnder Uebermuth, und jetzt endlich stand sie oben, hell beschienen von dem Sonnenstrahl, der durch das Laubdach drang und gerade auf das rosige Kinderantlitz fiel, mit flatternden Locken, mit glühenden Wangen und strahlenden Augen, und streckte die Hand nach dem ersehnten Gesträuche aus.

Aber plötzlich ließ sie dieselbe wieder sinken und stieß einen leisen Ausruf des Schreckens aus. Drüben vom Rande der Felswand blickten ein Paar große unheimlich tiefe und dunkle Augen starr zu ihr herüber, und als sie erschreckt noch weiter zurückwich, tauchte eine Gestalt in langem schwarzem Gewande aus dem Gebüsch hervor, und stand hochaufgerichtet ihr gegenüber.

Die erste Regung Luciens war, trotz der so nachdrücklich betonten sechszehn Jahre, eine ganz gründliche Gespensterfurcht, und ihre erste Bewegung ein Versuch davon zu laufen, aber schon im nächsten Augenblick siegte die Vernunft. Gespenster am hellen Mittage! Während die Sonne so goldig durch die Buchenzweige schien und der Bach zu ihren Füßen so lustig plätscherte, als wolle er sie auslachen über ihre kindische Angst – sie nahm allen Muth zusammen und wagte einen zweiten Blick hinüber.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_021.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)