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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


und kalt, und der glatte Wasserspiegel rings um die Schiffe bedeckte sich mit Eis. Nun durfte keine Zeit mehr verloren werden. Schleunigst wurde eine Anzahl Boote mit Proviant nach Süden gesendet, um am Lande ein Depôt anzulegen, damit man auf der Flucht gegen den Hunger geschützt sei, wenn es nöthig werden sollte, dieselbe über Land zu bewerkstelligen. Das junge Eis war schon so stark, daß die leichten Fahrzeuge sich nur mit Mühe einen Weg hindurchbrechen konnten, und sie mußten in aller Eile am Buge mit Kupfer beschlagen werden, um sie wenigstens etwas gegen Beschädigungen zu schützen.

Die Aussichten, auch nur eines der gefangenen Schiffe zu retten, wurden immer geringer und man mußte sich in das Unvermeidliche fügen und sie verlassen. Jedes längere Verweilen vergrößerte nur die Gefahr für das Leben der Mannschaften. Am dreizehnten September hielten die Capitaine eine letzte Berathung und beschlossen einstimmig, da eine Rettung der Flotte unmöglich sei und die Wohlfahrt Aller in höchster Gefahr schwebe, am nächsten Tage nach Süden aufzubrechen.

Alle eingeschlossenen und noch unversehrten Schiffe lagen in Gruppen umher und in Sicht voneinander, und manchem alten Seebär wurden die Augen feucht, als am vierzehnten September Nachmittags sämmtliche Flaggen zum letzten Male aufgezogen wurden und die Mannschaften in die bereitgehaltenen schwer beladenen Boote stiegen. Hundertundachtzig dieser kleinen Fahrzeuge trugen zwölfhundert Männer hinweg von jenen stolzen Gebäuden, in welchen sie die Erde umkreist und Sturm und Wetter getrotzt hatten und welche sie nun in dieser Einöde zurücklassen mußten.

Kaum hatten die Mannschaften ihre Schiffe verlassen, als auch schon die Eskimos vom Lande herbeieilten, dieselben bestiegen, und geschäftig auszuräumen begannen. Das werthvolle Fischbein namentlich schleppten sie hinweg, um von den im nächsten Sommer wiederkehrenden Walfängern dagegen allerlei für sie kostbare Güter einzutauschen.

Ohne jeden Unfall und nach einer beschwerlichen Fahrt über eine Strecke von ungefähr siebenzig Meilen erreichten sämmtliche Boote am fünfzehnten und sechszehnten September die südlich vom Eiscap ankernden und sie erwartenden Fahrzeuge: „Arctic“, „Progreß“, „Midas“, „Lagoda“, „Chance“, „Daniel Webster“ und „Europa“. Ein heftiger Nordweststurm erschwerte die Einschiffung der Mannschaften und nur wenige Boote konnten an Bord genommen werden, die meisten mußte man Wind und Wellen überlassen. Die mit Menschen überfüllten Schiffe segelten dann gemeinschaftlich nach der Beringstraße, und nachdem fünf derselben in Plover Bai am vierundzwanzigsten und fünfundzwanzigsten September noch Holz und Wasser eingenommen hatten, erreichten sie Anfang November ohne Unglücksfall die Sandwich-Inseln.

Die dreiunddreißig verunglückten Fahrzeuge hatten über sechszehntausend Faß Thran und vierzigtausend Pfund Fischbein an Bord; der Gesammtwerth von Schiffen und Ladungen wird auf weit über eine und eine halbe Million Dollars geschätzt. Beim Verlassen waren neunzehn derselben noch nicht vom schweren Packeise umschlossen und lagen so vertheilt, daß bei einem günstigen Abtreiben der Eismassen ihre Rettung mit Aussicht auf Erfolg hätte unternommen werden können. Es ist nun möglich, daß dieselben von den Eismassen auf das Land hinaufgeschoben worden und dort liegen geblieben sind, dann könnte im nächsten Sommer noch Vieles von ihnen gerettet werden; wahrscheinlich aber sind sie vom Eise zerdrückt oder auch seewärts geführt worden und werden dort beim nächsten Sturm zu Grunde gehen. Immerhin aber dürfen im nächsten Jahre interessante Aufschlüsse über ihren Verbleib erwartet werden. –

Bis jetzt hat sich nur eine dieser ähnliche Katastrophe ereignet und zwar im Jahre 1830 in der Bassins-Bai (Melville Bai, am Cap York). Unter ganz ähnlichen Verhältnissen wie die geschilderten wurden dort zwanzig Schiffe, neunzehn englische und ein französisches, vom Eise umschlossen und zerstört; merkwürdiger Weise sind auch damals keine Menschenleben verloren gegangen, obgleich nahe an tausend Schiffbrüchige auf dem Eise campiren mußten. Sie waren in zwei, durch rauhe Eismassen getrennte Abtheilungen gesondert, welche bald eine regelmäßige Postverbindung unter einander einrichteten und sich endlich gelangweilt den tollsten Lustbarkeiten ergaben und im Eismeer allerhand Festlichkeiten arrangirten. Ihr seltsames, mit ihrer Lage so wenig harmonirendes Treiben ist als die „Bassin-Fair“ (Bassins-Messe) bei den Walfängern sprüchwörtlich geworden.




Blätter und Blüthen.


Ein weiblicher Moltke. Es ist eine bekannte Thatsache, daß nach der Beendigung des amerikanischen Bruderkrieges zwischen den Nord- und Südstaaten zahllose Gesuche um Entschädigung für erlittene Verluste beim Congreß zu Washington eingereicht, so wie bedeutende Ansprüche auf den Dank des Vaterlandes für patriotische Handlungen von den verschiedensten Personen erhoben wurden. Der merkwürdigste Fall der letzteren Art ist aber ohne Zweifel der, dessen Heldin sich Miß Anna Carroll nennt.

Auch sie macht Anspruch auf den Dank des Vaterlandes, und zwar für nichts Geringeres, als für einen von ihr entworfenen Feldzugsplan, den sie dem Cabinet des Präsidenten Lincoln mitgetheilt hat, und durch dessen Ausführung die Rebellion im Süden auf’s Haupt geschlagen wurde.

Eine Dame und ein Feldzugsplan! so höre ich meine Leser lächelnd ausrufen. Ja wohl, eine Dame, aber eine Amerikanerin! Eine solche, wenn sie sich irgend einem Studium widmet, thut es an ernstem Fleiß und Ausdauer den Männern gleich. Die Dame, von welcher hier die Rede ist, gehört den ersten und vornehmsten Kreisen an. Sie stammt ab von dem berühmten Charles Carroll of Carrollton, Maryland, einem der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, und ist eine geistreiche politische Schriftstellerin von anerkanntem Ruf. Sie ist bekannt durch ihre Menschenfreundlichkeit, welche sie veranlaßte, ihre eigenen Sclaven – denn sie war Sclavenbesitzerin – freizugeben, lange bevor der Krieg ausbrach.

Meine Landsmänninnen würden es vermuthlich viel begreiflicher gefunden haben, wenn besagte Amerikanerin zu den Waffen gegriffen hätte, und als echte Amazone mit in den Krieg gezogen wäre; sie aber griff zur Feder, denn diese geistige Waffe versteht sie besser als jede andere zu führen. Ihr höchstes Streben war seit Ausbruch der Rebellion darauf gerichtet, durch ihre Schriften den Patriotismus ihrer Landsleute zu noch höheren Flammen anzufachen, und schwankende Gemüther für die Sache der Union zu gewinnen. Sie ließ diese Schriften auf eigne Kosten drucken und verbreiten. Und nicht ohne Erfolg! Einer der Senatoren von Washington sagt von ihnen: „sie gehören zu den besten, die überhaupt geschrieben wurden, und übten einen mächtigen Einfluß auf die Gemüther des Volks.“

Dies Alles aber genügte der heißen Vaterlandsliebe unserer Amerikanerin nicht; sie that mehr. Sie bereiste selbst den Südwesten, um sodann mit ihren an Ort und Stelle gesammelten Kenntnissen ihrem Vaterlande zu nützen.

Doch um die Verdienste der Miß Anna Carroll vollkommen würdigen zu können, ist es nöthig, meinen Lesern in wenigen Worten die Lage zu vergegenwärtigen, in welcher sich damals die Nordstaaten Amerika’s befanden.

Im Leben der Völker wie in dem von Individuen kommt eine Krisis, welche ihr Schicksal entscheidet. Solch eine Krisis führten die Jahre 1861 und 1862 für die Vereinigten Staaten herbei. Nach der Schlacht von Bullrun war die Welt darüber im Klaren, daß diese einem zweiten ähnlichen Stoß nicht gewachsen wären. Der ganze Süden war vollständig gerüstet, in Wahrheit ein einziges Kriegslager, während der Norden, gänzlich unvorbereitet, nur fünfundsiebenzigtausend Mann in’s Feld gestellt hatte, um einen Aufruhr von acht Millionen Weißen, die vier Millionen Sclaven in Unterwürfigkeit hielten, zu unterdrücken. Zu diesem Umstand gesellte sich noch die Thatsache, daß der Kriegsschauplatz nicht nur für die meisten der Kämpfer ein völlig neuer unbetretener Boden war, sondern daß auch nur wenige Männer des Nordens überhaupt irgend eine praktische Kenntniß von dem Innern des Südens und seinen Hülfsquellen hatten. Nur in der Theorie stimmten sie überein, daß ihre Armeen auf Kanonenböten den Mississippi hinunter geschifft werden müßten, um sich mit der Blokadeflotte zu vereinigen und auf diese Weise die Rebellion zu erdrücken. Heutzutage ist es Jedem, der jene Feldzüge studirt, klar, daß, wenn man diesen Plan ausgeführt hätte, die Vereinigten Staaten weder der That noch dem Namen nach mehr bestehen würden. Die beiden Ufer des Mississippi waren von fast uneinnehmbaren feindlichen Batterien vertheidigt, und diese würden die Kanonenboote sammt ihrer Mannschaft, wo nicht gänzlich vernichtet, doch jämmerlich zugerichtet haben. Dies neue Mißgeschick aber wäre ausreichend gewesen für England und Frankreich, sofort die conföderirten Staaten anzuerkennen. Dies große nationale Unglück wurde verhindert, nicht durch irgend einen General, sondern durch die Vermittelung einer Frau; und diese Frau war Miß Carroll.

Während sie die Südstaaten bereiste, war sie durch gründliche Forschungen zu der Ueberzeugung gelangt, daß nicht der Mississippi, sondern der Tenesseefluß der eigentliche strategische Schlüssel zum Südwesten sei, und als echte Patriotin behielt sie diese Ueberzeugung nicht für sich, sondern verfaßte eine Denkschrift, worin sie mit gewohntem Scharfsinn alle Nachtheile entwickelte, welche eine Expedition auf dem Mississippi zur Folge haben würde; zugleich aber schlägt sie den Tenesseefluß als Operationslinie vor, und setzt die Vortheile derselben ebenso klar und bündig auseinander. Ja, sie geht sogar so weit, in ihrer Denkschrift mit dürren Worten auszusprechen, daß, wenn die Befehlshaber den Tenessee übersähen und statt seiner den Mississippi wählten, sie ihr Fach nicht verständen. Mit dieser Denkschrift in der Hand

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