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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

mein Gesicht völlig im Dunkeln blieb. Er erzählte mir freudig, der Leibarzt sei bei ihm gewesen und habe ihm die Mittheilung gemacht, daß er morgen zum ersten Mal ausfahren dürfe, der Herzog werde ihn selbst im Wagen abholen – dann strich er mir schmeichelnd über den Scheitel und meinte, er freue sich, daß der Thee im Claudiushause nicht gar so lange gedauert habe und ich wieder bei ihm sei.

„Wie wird das aber werden, Vater, wenn ich auf vier Wochen in die Haide gehe?“ fragte ich und bog mich noch tiefer in den Schatten zurück.

„Ich werde mich hineinfinden müssen, Lorchen,“ sagte er. „Du mußt für eine Zeit in Deine eigentliche Heimathluft zurück, um Dich zu stärken – beide Aerzte haben es mir zur Pflicht gemacht. Sobald es warm wird –“

„Es ist warm draußen, köstlich mild,“ unterbrach ich ihn rasch. „Denke Dir, mich jagt es förmlich in die Haide – mir ist, als würde ich krank und könnte den bösen Feind nur durch den frischen Haidewind abwehren. … Vater, wenn Du mir einmal die Erlaubniß giebst, warum denn nicht heute Abend noch?“

Er sah mich erstaunt an.

„Das kommt Dir tollköpfig vor, nicht wahr?“ sagte ich mit dem schwachen Versuch zu lächeln. „Aber es ist vernünftiger, als Du denkst. Die weichste Luft weht draußen; ich fahre mit dem Nachtzug, bin morgen Abend auf meinem lieben, lieben Dierkhof, trinke vier Wochen lang Milch und athme Haideluft, und bin gesund wieder da, wenn es hier – schön wird, wenn die Bäume blühen, und dann – ist Alles, Alles gut – gelt, Vater? … Ich kann ja auch vollkommen ruhig gehen – Frau Silber bleibt bei Dir, besser könntest Du gar nicht aufgehoben sein – bitte, Vater, gieb mir die Erlaubniß!“

„Was meinen Sie denn dazu, Frau Silber?“ rief er unschlüssig hinüber.

„I lassen Sie Fräulein Lorchen nur gehen, Herr Doctor!“ sagte die gute Alte, breitspurig in die Thür tretend. „Der Mensch soll nicht gegen seine Natur sein, und wenn dem Fräulein zu Muthe ist, als würde sie krank und könnte nur in der Haide gesund werden, da sagen Sie um Gotteswillen nichts dagegen. … In einer Stunde geht der Nachtzug, packen Sie ein, Fräulein, ich helfe Ihnen und bringe Sie auf den Bahnhof.“

Auf flüchtenden Füßen verließ ich die Karolinenlust. Es war stockfinster, und meine Begleiterin konnte nicht sehen, wie mir die Thränen über das Gesicht strömten, wie ich hinüberwinkte nach dem Glashause, in welchem ich einen köstlichen Augenblick voll Glück erlebt hatte. Ich wollte nicht hinaufsehen nach den Fenstern des Vorderhauses, als wir durch den Hof gingen – ach, was vermochte mein Wille gegen den Trennungsschmerz, der in mir tobte? Meine Augen hingen verzehrend an der Lichtfluth in Charlottens Zimmer – man hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Noch waren Alle versammelt, man sah es an den lebhaft über die Zimmerdecke hinlaufenden wechselnden Schatten. Er verzieh ihr, der Treulosen, um deren willen er einst Nachts wie gehetzt die Gärten durchmessen hatte – er versöhnte sich mit ihr – es war ja heute ein Tag der Versöhnung – während „die unbesonnene kleine Haidelerche“, von seinem Herzen weggescheucht, davonflog, hinaus in die lichtlose Nacht.




33.

Das war ein Wiedersehen! … Zu Fuße wanderte ich vom letzten Dorfe nach dem Dierkhofe – durch den todtenstillen, laublosen Wald. Es dunkelte im Dickicht, und rasselnde Blätter hingen sich an meinen Rocksaum – die hatten frisch droben im Morgenwind geplappert, als ich in die Welt hinausgepilgert war, und jetzt begleiteten sie mich als gefallene Gespenster mit eintönigem Flüstern und Rauschen ganze Strecken lang. … Und als ich hinaustrat in die unermeßliche Ebene, als in der Abenddämmerung seitwärts die Hünengräber auftauchten und fern vom Dierkhof her ein Lichtlein brannte und Spitzens wohlbekanntes Gekläff halb verloren herüberscholl, da warf ich mich vor Schmerz aufweinend in das winterdürre Haidegestrüpp – ich kam unglücklich, gebrochen in die Haide zurück.

Und nun wuchsen die vier Eichen immer höher vor mir auf – ich sah deutlich den dunklen Punkt inmitten des einen Wipfels, das alte wohlbekannte Elsternnest – die jungen Vögel, die damals lustig in meinen Abschiedsjammer hineingeschrieen hatten, sie waren längst auf- und davongeflogen, und wohl nur das alte angestammte Paar hockte als Thurmwart des Dierkhofs droben und richtete die scharfen, klugen Augen auf das einsame Menschenkind, das über die Haide dahergewandert kam. Tief in der dunklen Wölbung des Hausthors glühte schwach ein Feuerkern, im Herde brannte der Torf, und das traute Dach, aus welchem der Rauch in kerzengeraden gelblichen Streifen zum Abendhimmel aufstieg, sah aus, als wüchse es direct aus dem Haideboden, so eingesunken, so klein geworden kam mir der Dierkhof vor. Da sah ich Spitz wie toll über den Hof rennen – in der Thür der Umzäunung blieb er wie athemlos, mit steifgespitzten Ohren, einst Augenblick stehen, aber nun raste er auf mich zu – er sprang mir freudewinselnd bis hinauf an das Gesicht, um mir die Wangen zu lecken – ich hatte Mühe, mich auf den Füßen zu halten.

„Was hat denn das Thier? Es ist ja wie närrisch!“ rief Ilse und trat unter das Hausthor. … Ach, diese Stimme! Ich lief über den Hof und warf mich an die Brust der großen Frau – da meinte ich ja endlich den Qualen entronnen zu sein, die mich wie die Furien bis in die stillste, tiefste Haide hinein verfolgten. … Sie schrie nicht aus und sagte auch kein Wort, aber die Arme umschlossen mich fest – ich wurde gehätschelt und geliebkost wie nie in meiner Kindheit und wußte sofort, daß sie sich unbeschreiblich gesehnt haben müsse, und als wir auf den Fleet traten, wo bereits Licht brannte, da sah ich auch, daß sie blässer geworden war.

Aber völlig ließ sich Ilse nie von ihrem Gefühl überrumpeln. Sie schob mich plötzlich mit steif ausgestreckten Armen von sich. „Lenore, Du bist durchgebrannt!“ sagte sie in jenem gefürchteten Tone, mit welchem sie mir einst auch meine Kindersünden auf den Kopf schuld gegeben hatte.

Bei allem innern Weh mußte ich lächelm. Ich setzte mich auf Heinzens Holzstuhl und erzählte ihr von dem Feuerunglück und der Krankheit meines Vaters, wobei sie ein Mal über das andere die Hände über dem Kopfe zusammenschlug. Das hinderte sie jedoch nicht, das Feuer im Herd neu zu schüren, den Wasserkessel aufzusetzen und mich mit einem Butterbrod sehr gegen meinen Willen, Bissen um Bissen zu füttern.

„Ja, ja, das war freilich das Gescheiteste,“ meinte sie, als ich ihr schließlich mittheilte, daß die Aerzte mich auf den Dierkhof geschickt hätten. Dann verschwand sie im Innern des Hauses, um mich bald darauf vor ein himmelhoch aufgethürmtes Bett zu führen.

„So, Kind – nun gehst Du zu Bett, und den Fliederthee bringe ich auch gleich. Auf zwanzig Schritte sieht man Dir’s an, daß Du Dich auf der Reise erkältet hast – das ist ja das reine Fiebergesicht. … Und gesprochen wird nun gar nichts mehr – morgen erzählst Du weiter.“

Auf mein entsetzliches Sträuben hin wurde mir der Fliederthee erlassen – ins Bett aber wurde ich ohne Gnade gesteckt. … Da sah nun wieder das verräucherte Bild Karl des Großen unverwandt auf mich nieder. Ich sprang auf, nahm es vom Nagel und kehrte es gegen die Wand. … Wie haßte ich dieses Gesicht! Wie viel Leichtfertigkeit, Lug und Trug deckte die weiße Stirn, die mich am Hünengrabe förmlich geblendet! … Sie hatte mir wie ein Licht in die dunkle Welt hineingeleuchtet – diesem trügerischen Schein war ich damals halb unbewußt gefolgt, um seinetwillen hatte ich mich von der alten Heimath losgerissen, jetzt sah ich klar in meine damaligen Empfindungen und verabscheute sie – sie hatten mich blind gemacht und einen Weg voll Irrthümer geführt.

Ich setzte mich wieder, wie in der Sterbenacht meiner Großmutter, auf das Fußende des Bettes und sah hinaus in die unermeßliche Weite. Nein – auch auf dem Dierkhof fand ich keine Ruhe, und je tiefer und lautloser die Stille um mich webte, desto furchtbarer schrie mein einsames Herz auf. … Jetzt begriff ich, wie meine Großmutter stundenlang dort in der Baumhofecke hatte stehen und unverwandt in die weite Welt hinausstarren können – die umschleierten Augen hatten ein Wesen in der Nebelferne gesucht, die Verlorene, Entartete, die das schwergekränkte Mutterherz dennoch nicht vergessen konnte. Und für mich breitete sich der weite, von Millionen Goldflittern betupfte Nachthimmel auch nur über einen einzigen Punkt, über das ferne alte Kaufmannshaus.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 864. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_864.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)