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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Knäuel zusammen, dergestalt, daß fünfzig einzelne Fäden eine Länge von sechszig Fuß bildeten. Aus diesen zusammengebundenen Fäden drehten sie sich ein etwa fünfundfünfzig Fuß langes Seil, dem sie allmählich immer ein Stück mehr anfügten, je nachdem sie in den langen Stunden qualvoller Nächte weiteres Leinenzeug auseinander gezupft hatten.

Welche unsäglich mühselige und langweilige Arbeit! Nur die Perspective eines möglichen Gelingens ihres Vorhabens ließ sie nicht ermatten. Nun ging es an das schwere Werk, die Eisenstangen aus dem Kamine auszureißen. Mit schweren Gewichten befestigten sie ihre Strickleitern, kletterten im Schornsteine in die Höhe und arbeiteten gegen die Stangen los. Sie quälten sich mehrere Monate lang, dann aber waren die Stäbe locker genug, um jeden Augenblick hinweggenommen werden zu können. Vorläufig ließen sie dieselben indeß noch stecken. Wie sauer diese Arbeit war, davon macht man sich schwerlich eine Vorstellung. Jeden Tag stiegen die beiden Männer mit blutenden Händen aus dem Rauchfange herunter und so gequetscht und zerschunden, daß sie immer einige Stunden ausruhen mußten, ehe sie im Stande waren, ihr Werk fortsetzen.

Hatte man jedoch auch die Stangen beseitigt, so bedurfte man immer noch einer hölzernen Leiter, um aus dem Graben auf den Wall hinaufzuklimmen, wo die Schildwachen standen. Dies aber war der einzige Weg nach dem Garten des Gouverneurs und von da aus in die Freiheit. Wie nun diese Leiter anfertigen? Sie konnten dazu nur das ihnen tagtäglich gelieferte Brennholz benutzen, Stücke von achtzehn Zoll Länge. Wie aber diese zerkleinern? Eine Säge besaßen sie ja nicht und die Tischhaspen drangen nicht durch. Der Scharfsinn La Tude’s wußte auch jetzt wieder Rath. Im Verlaufe weniger Stunden war aus einem eisernen Leuchter und der andern Hälfte ihres Feuerstahls eine vortreffliche Säge zu Wege gebracht, die in zwanzig Minuten ein armstarkes Stück Holz zerschnitt. Mit dieser Säge und dem Messer, welches sie sich bereitet hatten, wurde nach und nach die nöthige Anzahl Leitersprossen fabricirt, desgleichen die durch Gelenke ineinandergefügten Seitenbäume der Leiter. Damit nicht genug. Sie machten sich auch einen Cirkel, eine Haspel und Alles, was ihnen sonst an Geräthschaften zu ihrer Flucht noch noth that, und verbargen diese sämmtlichen Gegenstände natürlich in den hohlen Räumen zwischen den Decken der oberen und unteren Zelle. Jedem dieser Instrumente gaben sie einen geheimen Namen, so hießen sie die Säge Faun, die Diele Polyphem, die Leiter Jacob, das Seil Taube, die Haspel Anubis, die Haspen Tubalkain, und bestimmten, daß, sowie der der Thür sich am nächsten Befindende auf der Treppe den Tritt des Schließers hörte, er sogleich den Beinamen des rasch zu versteckenden Geräths ausrufen sollte, da der Kerkermeister die Zellen nicht selten auch bei Tage inspicirte.

Endlich, nach Anstrengungen und Mühen, die sich kaum denken lassen, waren Leitern und Seile fix und fertig und in der Höhle Polyphem’s glücklich geborgen. Da sich indeß La Tude überzeugte, daß die Strickleiter, mittelst deren sie die senkrechte Mauer hinabsteigen mußten, derart schwanken würde, daß den Hinunterklimmenden Schwindel befallen möchte, so flochten sie sich noch ein zweites dreihundert Fuß, das heißt doppelt so langes Seil, wie die Höhe des Thurmes betrug. Dieses zweite Seil sollte durch einen festen Kloben gezogen und mit seiner Hülfe das gefährliche Schwanken der Leiter beseitigt oder doch vermindert werden. Alles in Allem hatten sie jetzt vierhundert Fuß Strick oder Schnur. Hierauf kam die Herstellung der zweihundert Sprossen ihrer Strickleiter an die Reihe, – eine Arbeit, welche auch noch manche Woche in Anspruch nahm. Im Ganzen hatten ihre Vorbereitungen eine Zeit von achtzehn Monaten erfordert bei einer fast ununterbrochenen Arbeit während Tag und Nacht!

Mit Hülfe dieser Veranstaltungen nun mußte durch den Rauchfang auf die Zinne des Thurmes gestiegen, von hier aus hundertachtzig Fuß in den Graben hinabgeklommen, dann wieder über den Wall in den Garten des Gouverneurs empor, von Neuem in den großen äußeren Graben hinunter und schließlich über das Thor von Saint Antoine hinübergeklettert werden. Welche complicirte und schwierige Manöver waren da also zu vollführen! Und immer blieb ihnen noch Eines ganz unentbehrlich, und zwar etwas, worüber sie nicht die geringste Macht hatten: eine passende Nacht. Lockte sie vielleicht Regen, Sturm, Dunkelheit zum Werke und es hellte sich nachher der Himmel auf, so entdeckte sie die Schildwache sicherlich, und sie wurden dann entweder niedergeschossen oder zurückgeschleppt in die Bastille und in finstere Verließe geworfen, ist denen sie ihr Leben lang schmachten mußten, oder doch wenigstens, bis die allmächtige Marquise todt war. Allein selbst einem solchem Dilemma hatte La Tude einigermaßen zu begegnen gesucht. Er bedachte, daß die häufigen Ueberschwemmungen der Seine den Mörtel des äußeren Walls zerfressen haben müßten und daß es deshalb nicht unmöglich sein dürfte, mittelst eines einfachen Zwickbohrers, den er sich aus den Schrauben seiner Bettstelle fabricirte, und einiger Eisenstangen aus dem Schornsteine sich einen Weg durch die Mauer auf die Straße hinaus zu bahnen. Auch diese Vorkehrungen wurden noch getroffen – und so war man bereit, das lange geplante Wagniß zu vollführen.




2.

Die Nacht des 25. Februar 1756 wurde zur Flucht ausersehen, obschon sie wußten, daß in beiden Gräben das Wasser vier Fuß hoch stand. Da sie mithin ganz mit Schlamm überzogen und bis auf die Haut durchnäßt werden mußten, so belud sich La Tude noch mit der Last eines mit zwei vollständigen Anzügen gefüllten Koffers. Unmittelbar nach dem Mittagessen des bestimmten Tages brachten sie die beiden Leitern vollends zu Stande und versteckten sie unter ihren Betten, damit der Schließer beim Hereintragen des Abendbrods nichts davon gewahr wurde. Sie waren, wie dies häufig geschah, vom betreffenden Beamten erst am Morgen durchsucht worden, fühlten sich folglich ziemlich sicher. So schnürten sie denn ihre Geräthschaften in Bündel zusammen, brachen die Eisenstangen aus dem Schornstein heraus und wickelten sie ein. Eine Flasche Branntwein ward vorsorglich mitgenommen für den Fall, daß sie etwa längere Zeit im Wasser zu arbeiten hätten.

Der so heiß ersehnte und nun, da er wirklich herannahte, doch mit so großer Angst begrüßte Moment war gekommen. Der Kerkermeister hatte die Abendmahlzeit gebracht und die Thür geschlossen. La Tude, obwohl an heftigen rheumatischen Schmerzen an dem einen Arme leidend, begann im Schornsteine in die Höhe zu klettern. Allein er hatte übersehen, sich nach Essenkehrermanier einen Rock über den Kopf zu ziehen und Ellenbogen und Schenkel durch Hüllen zu schützen, und so machte ihn der herabfallende Ruß fast blind, während das Blut ihm von Knieen und Armen herabrann. Trotz alledem aber ließ er sich nicht aufhalten in seinem Unternehmen und gelangte glücklich bis zum Kranze der Esse.

„Endlich war ich oben,“ – so erzählt er selbst, und wir setzen unsern Bericht jetzt in seinen eigenen Worten fort – „und nahm rittlings auf dem Schornsteine Platz. In dieser Stellung wickelte ich einen Knäuel Schnur ab, an deren Ende mein Gefährte unser stärkstes Seil anknüpfen sollte, um hieran unsern Koffer zu binden. Dies geschah, und ich zog das Behältniß wohlbehalten zu mir empor. Hierauf ließ ich die Schnur abermals hinunter, an die d’Alègre nun die hölzerne Leiter befestigte. Auch sie, die beiden Eisenstangen und die übrigen Bündel, deren wir bedurften, kamen dergestalt zu mir herauf. Sowie ich dies Alles beisammen hatte, ließ ich die Schnur zum dritten Male, nieder, um daran die Strickleiter emporzuheben. Als dies geschehen, stieg mein Camerad, von mir nach Kräften unterstützt, durch den Rauchfang in die Höhe. Schließlich ward heraufgezogen, was wir an Geräthschaften noch mitzunehmen hatten.

Vom Schornstein auf die Plattform des Thurmes hinab zu gelangen, bot keine große Schwierigkeit bar. Aber man denke sich: das Gepäck, mit dem wir uns beladen mußten, war so ansehnlich und so gewichtig, daß kaum zwei Pferde es hätten fortschleppen können! Allein das durfte uns nicht hindern, wir mußten vorwärts, vorwärts unter allen Umständen. Wir rollten unsere Strickleiter zusammen; sie bildete einen fünf Fuß hohen und einen Fuß dicken Haufen, und diesen Mühlstein wälzten wir langsam bis zum Schatzthurme, welcher uns für unsern Abstieg als der geeignetste erschien. An eine Mauerkante festgebunden, wurde die Leiter sachte in den Graben hinabgelassen. In derselben Weise befestigten wir unsern Kloben, über den das dreihundertsechszig Fuß lange Seil lief, und sobald wir alle unsere Bündel daneben placirt hatten, knüpfte ich meinen Schenkel an dem über den Kloben laufenden Seil fest, trat auf die Leiter, und je tiefer ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 854. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_854.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)