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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Epauletten – „lediglich einen Schmuck sieht – ich weiß, daß sie nur in Ehren getragen werden dürfen! Und da kömmt nun der stolze Officier bei Nacht und Nebel als Einbrecher und bedroht ein wehrloses Mädchen.“ –

„Ah, die kleine Viper versucht zu stechen?“ knirschte er und schlug seine Arme um mich; aber meine Geschmeidigkeit kam mir zu Hülfe – aufschreiend entschlüpfte ich ihm und stand mit einem Sprung auf der Fensterbrüstung.

„Um Gotteswillen, was ist denn das?“ rief draußen der alte Schäfer – er war auf dem Weg nach Hause und kam jetzt über das helle Schneefeld hergelaufen.

„Kommen Sie herein – ach, schnell, schnell!“ stammelte ich, zwischen einem Thränenausbruch und dem Jubel des Erlöstseins schwankend.

Mit einem Fluch sprang Dagobert durch das andere Eckfenster, während der alte Gärtner die Hausfront entlang lief und gleich darauf eintrat.

„Was hat’s denn gegeben?“ fragte er, sich erstaunt im Zimmer umsehend. „Du lieber Gott, Fräulein, Sie sehen ja so erschrocken aus wie mein Kanarienvögelchen, wenn die Katze in der Stube gewesen ist! … Hat’s vielleicht rumort im alten Hause? Fürchten Sie sich nicht – das sind nur die Mäuse, Fräulein. Gespenster giebt’s nicht, und wenn die Leute zehn Mal sagen, es sei nicht richtig in der Karolinenlust.“

Ich ließ den guten Alten, dessen Stimme mich so sanft zu beschwichtigen suchte, in dem Wahn, daß eine Art Phantom mich erschreckt habe, und bat ihn nur, die Fensterläden so fest wie möglich zu verrammeln, dann schloß ich alle Thüren ab und ging hinauf in das Bibliothekzimmer. … Ich fühlte mich so kampfmüde – der letzte Rest der bedeutenden Dosis von Trotz und Widerstandsfähigkeit, mit welcher ich der neuen Welt entgegengetreten, war erschöpft. – und ich war noch so jung, so jung! … War das ganze Menschenleben solch ein Kampf mit den unerbittlichen Consequenzen, die das eigene Irren heraufbeschworen? Und sollte meine bange, geängstigte Mädchenseele nun fort und fort, auf ihr eigenes Ringen angewiesen, hülf- und stützelos in Nacht und Sturm auf- und niedertaumeln? … Ich schüttelte mich vor Grauen – ich mußte versinken in Angst und Noth, wenn nicht eine starke Hand nach mir herübergriff. … „Mit meinem Mantel vor dem Sturm – beschützt’ ich Dich!“ – Ach ja, geborgen sein! Wer doch mit lahmen Flügeln unter die Hut des Stärkeren flüchten und dort aufathmen durfte! … Wie hatte ich die Kraft der „Kinderhände“ überschätzt, weil sie sich lustig durch den Frühlingssturm der Haide hindurchgekämpft! Wie sanken sie schon jetzt ermattet nieder und tasteten nach Halt und Stütze! …

Das Bibliothekzimmer war noch verschlossen, als ich hinaufkam, und so viel ich auch klopfen und rütteln mochte, ich erhielt keine Antwort. Im ersten Augenblick meinte ich, mein Vater sei fortgegangen – es war todtenstill drinnen. Aber nun hörte ich von fern herüber ein dumpfes Gepolter, dem ein kicherndes Auflachen folgte – der Lärm kam aus dem Antikensaal, dessen Thüren jedenfalls weit offen standen. Mir klang es, als würden schwere, harte Massen niedergeworfen, und das Lachen war ein so seltsam Unheimliches, daß sich mir unter einem Angstschauer leise die Haare sträubten. … Und jetzt flog ein Gegenstand in die Bibliothek herein und zersprang auf dem Fußboden klirrend in tausend Scherben – ein wahres Triumphgeschrei folgte dem Geschmetter. … Ich schlug mit den geballten Händen auf die dröhnende Thür und rief verzweiflungsvoll unaufhörlich den Namen meines Vaters.

Da ging jenseits des weiten Treppenhauses eine Thür auf, und Herr Claudius trat aus seiner Sternwarte – fast tageshell floß das Mondlicht mit ihm heraus. Ich eilte zu ihm hin und theilte ihm unter krampfhaftem Ringen mit den hervorstürzenden Thränen meine Seelenangst und Noth mit. Während in der Bibliothek auf meinen Lärm hin eine unheimlich tiefe Stille eingetreten war, erzählte ich mit niedergeschlagenen Augen flüsternd von der Münzengeschichte.

„Ich weiß es,“ unterbrach mich Herr Claudius ruhig.

„Der Kummer macht meinen Vater wahnsinnig – ach, wie leide ich um ihn!“ rief ich. „Er ist gebrandmarkt und hat über Nacht seinen berühmten Namen verloren!“ –

„Glauben Sie das nicht! Es wäre traurig, wenn ein einziger Irrthum ein ganzes Leben von angestrengter Geistesarbeit aufheben sollte. … Herr von Sassen hat ungeheure Verdienste um die Wissenschaft, die kann ihm Niemand rauben, und gerade deshalb suchen ihn die Mücken in einem Augenblick der Schwäche nur so empfindlicher zu stechen. … Das geht vorüber. Seien Sie ruhig, Lenore, und weinen Sie nicht.“ Er hob unwillkürlich die Hand, als wolle er die meine tröstend fassen, aber sie ebenso rasch sinken lassend, trat er an die Thür der Bibliothek und rüttelte an dem Drücker.

In demselben Moment schlug es drinnen krachend und fortrollend auf die Dielen nieder.

„Du bist ja kein Agasias!“ schrie mein Vater – ach, ich erkannte diese kreischende Stimme kaum wieder! – „Sassen hat gelogen! Fragt nur den Hart in Hannover, der weiß es! … Fort mit dir, du bist auch gefälscht!“ – Man hörte, wie er nach dem zu Boden geschmetterten Gegenstand stieß.

„Ach, das ist der schlafende Knabe, sein Abgott, über den er ganze Bände schreibt, um zu beweisen, daß es ein Werk des Agasias ist!“ stieß ich zitternd heraus. „Gott im Himmel, er zertrümmert die Antiken!“

Herr Claudius klopfte mit starkem Finger an die Thür.

„Wollen Sie mir nicht öffnen, Herr Doctor?“ rief er laut, aber mit völlig beherrschter Stimme.

Mein Vater stieß ein gellendes Gelächter aus. „Und es steht geschrieben – ha, ha, ist Alles Lüge gewesen vom Anfang an! Wehre dich doch, wenn du von Gottes Gnaden unsterblicher Geist bist! Siehst du, wie dich die gelben Flammen fressen? … Hei, da wirbelt sie hinauf an die Decke, die Lügenbrut des Geistes, auf die der berühmte Mann stolz war! – Rauch, nichts als Rauch!“

Herr Claudius fuhr entsetzt zurück – aus dem Schlüsselloch und den Thürfugen quoll dicker Qualm und ein erstickender Geruch – wollene Stoffe brannten.

„Er verbrennt sein Manuscript, und das Feuer hat die Vorhänge angegriffen!“ schrie ich auf. Ich brach in lautes Jammern aus und warf mich verzweiflungsvoll gegen die Thür – ach, was vermochten meine armen kleinen Hände und Füße gegen die dicken Bohlen, die sich nicht rührten!

Herr Claudius sprang in die Sternwarte zurück, und jetzt dachte ich auch an die kleine, kaum sichtbare Tapetenthür in der Bibliothek; sie führte in einen weiten, dunklen Raum voll Gerümpel, der das genannte Zimmer von der Sternwarte trennte. Und wenn die Thür auch verschlossen war, zwei harte Fußtritte genügten, um das leichte Brettergefüge zu sprengen. Aber es bedurfte dessen nicht einmal; rasches Laufen drinnen und ein zorniger Schrei meines Vaters belehrten mich, daß Herr Claudius, ohne Widerstand zu finden, eingedrungen sei. Der Schlüssel wurde umgedreht und die Thür aufgerissen. Welch ein Anblick! … Rauch und Qualm, und dazwischen hochaufschießende Flammenfratzen, von knisterndem Funkenregen umstiebt, wogten um die traute Schreibecke meines Vaters. An den sehr schweren, dicken Wollvorhängen fraßen sich „die gelben Zungen“ nur langsam empor; desto lustiger und begehrlicher leckten sie bereits über die Stöße alter Brochüren hin, die ein zwischen den Fenstern stehendes Regal füllten. Mein Vater schrie und geberdete sich wie ein Rasender – er floh vor Herrn Claudius, der ihn zu fassen und aus dem Zimmer zu ziehen suchte. Unter den Füßen der Laufenden knirschten und krachten unaufhörlich Scherben – der Boden war bedeckt mit Trümmern kostbarer antiker Thongefäße.

Ich lief hinein.

„Zurück, Lenore! Hinaus! Denken Sie an Ihre feuerfangenden Kleider!“ rief Herr Claudius angstvoll herüber, indem er meinem Vater, der sich auflachend in die Flammen zu werfen suchte, den Weg vertrat. „Laufen Sie in das Vorderhaus um Hülfe!“

Ich sah im Davoneilen, wie mein Vater, über die am Boden liegende Marmorfigur strauchelnd, niederfiel, von Herrn Claudius erfangen und, trotz seiner wüthenden Gegenwehr, auf kraftvollen Armen nach der Thür getragen wurde; aber kaum hatte ich die Halle betreten, als ich hörte, wie die Ringenden droben im unausgesetzten Kampfe die Treppe erreichten.

„Mörder, elender Mörder!“ schrie mein Vater, daß die marmorbekleideten Wände gellten – dann erfolgte ein entsetzliches Gepolter.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_843.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)