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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 51.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


30.

Ich benutzte die allgemeine Bestürzung und Verwirrung, hüllte mich unbemerkt in Mantel und Kapuze und verließ das Vorderhaus. Noch zitterten mir die Kniee, und das Blut jagte mir fieberisch durch die Adern – die Scene war entsetzlich gewesen! … Die grenzenlose Unbesonnenheit, mit welcher ich mich mitten in die geheimnißvollen Beziehungen des Claudiushauses gestellt hatte, rächte sich grausam, in unerbittlicher Consequenz. Glied um Glied der verhängnißvollen Kette wurde an meinem Auge vorübergeführt, und eine heimtückische Hand stieß mich stets mithandelnd und mitleidend in die verschiedenen Phasen der Entwickelung hinein. … Ich hatte mit anhören müssen, wie er, für den ich freudig mein Herzblut hingegeben hätte, nun in der That des notorischen Betruges angeklagt wurde. Jedes Wort war für mich ein Dolchstich gewesen und hatte mich mit heißen Rachegefühlen für die leidenschaftliche Anklägerin erfüllt; und doch hatte ich mit geballten Händen und überströmenden Augen stillhalten müssen in meinem Versteck. Ja, gerade in jenen Momenten war ich der Wucht vernichtender Beschämung fast erlegen. … Hatte ich nicht auch einst bei Hofe vor dem Angesicht der Prinzessin, genau so wie jetzt Charlotte, den ahnungslosen Mann aus allen Kräften zu verlästern gesucht? Hatte ich nicht damals grausamen Muthes entschieden erklärt, daß ich ihn nicht leiden könne? Und wenn ich ihm mein Lebenlang diente wie eine Magd, ich konnte nie sühnen, was ich ihm angethan in kindischer Verblendung! … Und das trieb mich aus seinem Hause, hinaus in die todtenstillen Gärten. … Hätte ich doch so weiter wandern dürfen auf den glatten, beschneiten Wegen! Immer weiter, bis tief in die Haide hinein, wo Ilse und Heinz jetzt friedlich neben dem großen Kachelofen saßen. Hätte ich mich auf das Fußbänkchen neben Spitzens zottigen Pelz setzen und wie sonst an den stillen trauten Winterabenden Ilse’s liebe harte Hand auf meinem Scheitel fühlen dürfen, vielleicht wäre Friede über mich gekommen, Friede! Jetzt erst wußte ich die einstige köstliche Stille in und außer mir zu schätzen, seit mich der ungestüme Herzschlag ruhelos umhertrieb und mich bald in den Himmel hob, bald in den Abgrund bitterer Reue und Selbstanklagen stieß.

Eine blendende Helle breitete sich jetzt über die weiten Gärten; wie aus klingendem Silber geschnitten, schwebte die Mondscheibe scharf abgegrenzt am kalt gläsernen Himmel. Ich schritt über die Brücke. Drunten lag schlangenhaft gleißend der erstarrte Fluß zwischen dem blätterlosen Ufergebüsch, und im Bosquet stäubte silbernes Geflimmer von den Zweigen. Die steinernen Titanen des Teiches lagen nicht mehr auf blauer Sammetdecke – ein riesiger Eisbrillant trug sie in seiner Mitte, und sie hatten Schneeturbane über den bärtigen Gesichtern und das leichtgeschürzte Florgewand der frierenden Diana säumte dicker, weißflockiger Winterpelz. Und alle Contouren des architektonischen Schmuckes auf dem Rococoschlößchen hatte Frau Holle mit ihrem Federweiß zart und weich nachgemalt und auf dem Balcon vor den Glasthüren ein hochschwellendes, fleckenlos weißes Polster niedergelegt. … Wie kindlich harmlos war meine erste Vorstellung von dem Geheimniß der versiegelten Zimmer gewesen – ich hatte das Märchen drinnen wandeln sehen! Und nun waren es eine Handvoll Papiere, die da spukten und von denen zwei schrankenlos ehrgeizige Menschen erwarteten, daß sie ihnen in der That das goldene Zauberthor öffnen sollten, aus welchem ihnen mühelos die Schätze der Welt in den Schooß fielen.

Ich sah hinauf nach den Fenstern der Bibliothek. Die Lampe brannte noch auf dem Schreibtische, aber über den Plafond hin flog ein hastig auf- und ablaufender Schatten – das war mein Vater – er schien unruhiger und aufgeregter als je. Beklommen stieg ich die Treppe hinauf – die Bibliothek war verschlossen. Zwischen die unaufhörlich das Zimmer durchmessenden Schritte klang dumpfes Gemurmel, und hier und da schlug mein Vater mit knöcherner Faust auf die Tischplatte, daß sie dröhnte.

– Ich klopfte und bat ihn, zu öffnen.

„Laßt mich in Ruhe!“ rief er rauh und heftig drinnen, ohne sich der Thür zu nähern. „Gefälscht, sagt Ihr?“ – Er stieß ein gellendes Gelächter aus. – „Kommt her und beweist! … Aber thut Eure Stecken weg! … Was schlagt Ihr mich denn auf den Kopf? … O, mein Gehirn!“

„Vater, Vater!“ rief ich angstvoll.

Ich wiederholte meine Bitte, mich einzulassen.

„Gehe – quäle mich nicht!“ rief er ungeduldig und wanderte wieder tiefer in das Zimmer hinein.

Ich mußte gehorchen, wollte ich ihn nicht noch mehr reizen, und entfernte mich für den Augenblick. Drunten brannte ich die Lampe an und ging in sein Zimmer, um für die Nacht Alles vorzurichten … Da lagen die Zeitungen, die er heute erhalten,

auf dem Tische, aufeinandergeschichtet und scheinbar unberührt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 841. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_841.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2019)