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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 50.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
28.

Am anderen Morgen, als ein bleicher, kalter Sonnenstrahl auf mein Bett fiel, da zerstob freilich der wonnige Spuk nach allen vier Wänden. Ich schämte mich und wußte doch eigentlich nicht weshalb. … Fräulein Fliedner protestirte energisch, aber das half Alles nichts – ich sprang aus dem Bett, kleidete mich eiligst mit bebenden Händen an und lief nach der Karolinenlust – ich floh aus dem Vorderhause. … Allein dem scharfen Blick, unter dem ich mit einem Mal wehrlos zitterte, konnte ich doch nicht mehr entfliehen, und seltsam – Herr Claudius, der bis dahin meinem abweisenden Benehmen eine ruhig ernste Stirn, eine völlig reservirte Haltung entgegengestellt hatte, er wich nicht um Haaresbreite mehr von dem Standpunkte zurück, auf welchem er an jenem Abend Fuß gefaßt. … Er hatte mich einmal stützend umschlungen, und nun war es, als geschähe das unsichtbar fort und fort, bis in alle Ewigkeit. Meine scheue Flucht bei seinem Erblicken, meine consequent gesenkten Augenlider, wenn er mit mir sprach, mein Schweigen in seiner Nähe, das Alles blieb ohne Wirkung – er sprach unverändert in den warmen Tönen zu mir, die er einmal angeschlagen, und seine strahlend heitere Stirn furchte sich nicht. Er hielt mich eisern fest, ohne mich zu berühren, und den Ausspruch, daß er mich zu beschützen wissen werde, machte er in jeder Beziehung wahr. Er war beinahe mehr in der Sternwarte, als in seiner Schreibstube; Theeabende gab es nicht mehr im Vorderhause – dafür saß Herr Claudius oft an unserem kleinen Theetisch in der Bibliothek, und während der Wintersturm draußen um die Ecken heulte, und die herabgelassenen grünen Wollvorhänge leise in das Zimmer hereinblies, hielt mein Vater vor seinen zwei Theetischgenossen einen seiner weltberühmten Vorträge. Tief nachsinnend hörte Herr Claudius zu; nur dann und wann fiel ein Einwurf von seinen Lippen – dann fuhr der Redner betroffen zurück, denn es war neu und originell, was er da hörte, und stützte sich auf einen Wissensschatz, den er bei „dem Krämer“ am allerwenigsten vermuthet hatte.

Unser Uebereinkommen, bezüglich meiner schriftlichen Leistungen für die Firma, war auch in Kraft getreten. Ich erhielt die Arbeit durch Fräulein Fliedner und lieferte sie in ihre Hände glücklich wieder zurück und war sehr erstaunt, daß man mit Schreiben so unmenschlich viel Geld verdienen könne; denn die Sorgen traten nie mehr an mich heran, und doch blieb mir immer noch ein kleiner Schatz zur Verfügung.

Welche Veränderung! Ich fühlte mich unrettbar umstrickt und festgebunden an eine andere Seele, und doch beneidete ich den Vogel nicht mehr, der frei über die heimische Haide streifen durfte – ich hätte aufjubeln und es allen Winden erzählen mögen, daß ich gefangen sei, und meine Stirn mochte ich in der That an den Bäumen wund stoßen, nur um noch einmal wonnig zu fühlen, wie die andere Seele um mich leide. Um des Einen willen vergaß ich mich und die ganze Welt und auch die Thatsache, daß ich zwei Sünden auf dem Gewissen hatte – die der Lüge und der verschwiegenen Mitwissenschaft eines ihn so tief berührenden Geheimnisses. Wie fiel ich dann aus all’ meinen Himmeln, wenn Charlottens Stimme mein Ohr traf, oder ihre gewaltige Erscheinung in meinen Gesichtskreis trat! Zwar sie hüllte sich jetzt in eine stolze Zurückhaltung. Am Tag nach jenem stürmischen Abend war sie in mein Zimmer gekommen. – „Ich will Sie nicht mit meinen Fingerspitzen, ja nicht einmal mit dem Hauch meines Mundes berühren!“ hatte sie mir von der Schwelle aus bitter zugerufen. – „Ich will nur Frieden mit Ihnen machen, Prinzeßchen! – Verzeihen Sie mir, was ich Ihnen angethan!“ – Ich war auf sie zugesprungen und hatte gerührt ihre Hand ergriffen.

„Haben Sie gesehen, wie ich unsern Tyrannen gestern auf die Zinne führte? … Er ist verloren! … Ich gehe mit geschlossenem Mund und unterdrücktem Herzschlag im Krämerhause herum – jeden Bissen, den ich esse, vergällt mir der Ingrimm, die innere Empörung; aber ich halte aus – ich muß unseren kostbaren Schatz im Schreibtisch hüten, ich darf nicht gehen, ehe Dagobert kommt! … O, wie will ich aufjubeln, wenn ich endlich die Thür der Krambude für immer hinter mir zuschlagen und meinen Fuß auf den Boden des Elternhauses setzen werde!“

Bei diesem leidenschaftlichen Ausbruch hatte ich scheu ihre Hand sinken lassen und war zurückgetreten. Seit jenem Augenblick trafen wir uns selten allein; nur wenn ich im Hofwagen von der Prinzessin zurückkehrte, da kam sie in den Hof und begleitete mich durch den Garten, und ich mußte ihr erzählen und berichten. … Kurz nach dem Besuch im Claudius-Hause war die fürstliche Frau an einem rheumatischen Leiden erkrankt und hatte K. behufs einer schleunigen Cur verlassen müssen. Während ihrer Abwesenheit war ich selbstverständlich nicht an den Hof gekommen, nun aber mußte ich allwöchentlich zwei Mal erscheinen – das waren die einzigen Momente, wo Herr Claudius mit kaltfinsterem Gesicht umherging.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 825. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_825.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2018)