Seite:Die Gartenlaube (1871) 817.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Da ging die Thür auf und Fräulein Fliedner trat mit dem herbeigeholten Hausarzt ein, gleich darauf kam auch mein Vater. Er war anfänglich sehr betroffen über meinen Unfall; aber nach Aussage des Arztes war nicht der mindeste Grund zur Besorgniß vorhanden. Eine meiner Locken fiel unter der Scheere, dann wurde ein kleiner Verband angelegt, nur durfte ich nicht mehr in die Nachtluft hinaus. Zum ersten Male schlief ich, bewacht von Fräulein Fliedner, im Vorderhause; und durch meine leichten Fieberträume ging eine kleine Gestalt; sie trug den Stirnschleier, wie die Hausfrauen der alten Claudius, und schritt durch die hallenden Gänge und die breite Steintreppe hinab; aber ihre Füße berührten die kalten Fliesen nicht, die ganzen Blumen des Gartens waren ja da hingeschüttet worden, und das kleine Wesen – ich wußte es unter einem unbeschreiblichen Glücksgefühl – war ich. …

(Fortsetzung folgt.)




Die Frauenbewegung in Deutschland.

Es war in den dreißiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts, als das Wort „Frauen-Emancipation“ in mannigfach frappirenden Tonarten zu uns herüberschwirrte. Wie alles oder vieles Neue kam es damals aus Paris und war aus den eigenthümlichen Rissen und Brüchen des dortigen Gesellschaftsbodens hervorgewachsen. Das Wort entbehrte nicht eines gewissen poetischen Zaubers, aber es fehlte ihm der anfrischende Reiz eines jungen Gedankens. Sein Athem war heiß und seiner Bewegung entströmten berauschende Gluthen. Auch war es in der That keine neue Wendung, die mit dem Ausdruck bezeichnet wurde. Die Umwälzung der geschlechtlichen Beziehungen, welche er herbeiführen wollte, war vielmehr thatsächlich schon vor der großen Revolution von 1789 in den höheren Pariser Gesellschaftsclassen sehr durchgreifend vollzogen worden, und sie hatte sich in den Zeiten nach der Revolution mit ansteckender Gewalt auch über andere große Schichten jener Bevölkerung verbreitet. Wer hat nicht gehört oder gelesen von diesem bacchantischen Kriege des Blutes gegen den Zügel der Pflicht, von dieser umsichgreifenden Lockerung oder Abwerfung der Ehe- und Familienbande, diesem offenen oder geheimen Hinaussetzen der Leidenschaft und des persönlichen Gelüstes über das zwingende Gesetz der Sitte? Diesem Kriege und dieser Befreiung wollten die neuen Emancipationsapostel zu öffentlicher Geltung verhelfen. Was aber, ihren Lehren nach, das Weib nicht mehr sein sollte, eine treue und wachsame Hüterin der sittlichen Schranken, das war es in weiten Kreisen des französischen Lebens schon längst nicht mehr gewesen. Hat doch einer der Hauptpropheten des modernen Frankreich, der Philosoph und Geschichtschreiber Michelet, in einem seiner neueren Bücher („La femme“) das schmerzliche Geständniß abgelegt, daß der Ehebruch leider in Frankreich eine „National-Institution“ geworden und das Institut der Ehe überhaupt im Absterben begriffen sei!


Auguste Schmidt und Louise Otto-Peters,
die beiden Vorsteherinnen des deutschen Frauenvereins.


Auch Deutschland hatte gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, in der sogenannten Sturm- und Drangperiode seiner Dichtung, sowie noch später zu verschiedenen Malen einen Befreiungsantrieb ähnlicher Art sich regen sehen. Es waren dies aber rein literarische und dichterische Bewegungen, die keiner gesellschaftlichen Fäulniß entwuchsen, sondern nur von oben her einen Strom befruchtender und befreiender Gedanken in das stockende Volksleben sandten, ohne die Gesundheit seiner wesentlichen Grundlagen erschüttern zu können. Das innerste Wesen des deutschen Hauses, der deutschen Frau, Ehe und Familie blieb vielmehr unter allen wechselnden Strömungen des neueren Culturumschwunges, was es immer gewesen. Wie die Angriffsversuche eigener Dichter und Schriftsteller über diese geschützten und geheiligten Grenzen nicht hinauszudringen vermochten, so waren an ihnen auch die entzündlichen Einwirkungen französischer Emancipationslehren und ihrer Poeten und Philosophen spur- und folgenlos vorübergegangen. Damit soll nicht gesagt sein, daß sie bei uns nicht hier und dort verwirrendes Unheil angerichtet und einige unerquickliche Frauenerscheinungen zu Tage

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_817.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)