Seite:Die Gartenlaube (1871) 816.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Ilse wüßte! Sie kann die nervenschwachen Frauenzimmer nicht ausstehen. … Aber wir wollen das Tuch wieder abnehmen, Fräulein Fliedner – es ist wirklich nicht nöthig“ – ich griff danach. „Ach meine Rose!“ rief ich unwillkürlich.

„Sie sollen sie wieder haben,“ sagte Herr Claudius niedergeschlagen – ich sah, wie ein Seufzer seine Brust hob. Er ging in das anstoßende Zimmer, wo die Blume noch auf dem Boden lag, und nahm sie auf.

„Ich muß sie in Ehren halten, Frau Helldorf hat sie so lange für mich gepflegt – wir haben zusammen jedes Blättchen beobachtet und wachsen sehen,“ sagte ich zu ihm aufblickend, als er mir sie hinreichte.

Diese wenigen Worte hatten eine seltsame Wirkung – mit ihnen verflog das traurig finstere Gepräge auf Herrn Claudius’ Stirn bis auf die letzte Spur, und dort rauschte die Gardine, und Charlotte, die sich offenbar in der ersten Bestürzung in das schützende Dunkel der Fensternische geflüchtet hatte, trat rasch hervor, Sie kam auf mich zugeflogen und warf sich auf die Kniee nieder.

„Prinzeßchen“ – flehte sie in weichen, halbgebrochenen Tönen und streckte mir, um Verzeihung bittend, die Rechte hin.

Herr Claudius trat zwischen uns. Ich zitterte – ich hatte ja noch nie diese großen, blauen Augen im unbezähmbaren Zorn auflodern sehen.

„Du berührst sie mit keiner Fingerspitze! Nie wieder! Ich werde sie künftig vor Dir zu schützen wissen!“ rief er heftig und stieß ihre Hand zurück. … Wie sie unerbittlich hart und grausam klingen konnte, diese ruhige, gelassene Stimme!

Fräulein Fliedner fuhr entsetzt herum und sah angstvoll in sein Gesicht – zum ersten Mal seit langen Jahren wieder durchbrach die Leidenschaft, die bis auf den letzten Funken erloschen schien, den Damm einer streng geübten, beispiellosen Selbstbeherrschung … Geräuschlos drückte die alte Dame die Thüre zu – in Charlottens Zimmer waren ja noch die Herren anwesend.

„Ich bereue – bereue bitter jenen Moment, wo ich Dich auf meinem Arm in eine reinere Atmosphäre zu retten meinte!“ fuhr er in gleicher Heftigkeit fort. „Ich habe Wasser mit Sieben geschöpft – Art läßt nicht von Art, und das wilde Blut in Deinen Adern –“

„Sage lieber ‚das stolze‘, Onkel!“ unterbrach sie ihn, sich vom Boden erhebend – sie war bleich wie der Tod; dieser herausfordernd in den Nacken geworfene Kopf schien förmlich versteinert in seiner hohnvollen Ruhe.

„Stolz?“ wiederholte er mit einem bitteren Lächeln. „Sage mir, wie Du diese schöne Zierde des Weibes zu zeigen gewohnt bist, und warum! Vielleicht in dieser Stunde, wo Du, baar aller Weiblichkeit und Würde, eine zügellose Bacchantin warst?“

Sie fuhr zurück, als habe er sie in das Gesicht geschlagen.

„Und was nennst Du sonst stolz?“ fuhr er unerbittlich fort. „Dein ungerechtfertigtes Haschen nach Rang und Stellung? Deine Art und Weise, wie Du Menschen, die Deiner Meinung nach tief unter Dir stehen, wegwerfend und herzlos behandelst? … Mit dieser Handlungsweise erbitterst Du mich oft aufs Tiefste, und ohne es zu wissen, rüttelst Du bedenklich an dem morschen Boden unter Deinen Füßen … Hüte Dich.“ –

„Vor was, Onkel Erich?“ unterbrach sie ihn kalt mit spöttisch gesenkten Mundwinkeln. „Haben wir, mein Bruder und ich, nicht bereits alle Stadien der Unterdrückung durchlaufen? Giebt es wirklich noch eine Saite auf unseren allerdings hochgespannten Seelen, die Du nicht mit harter Hand angegriffen und als verkehrt, als unvereinbar mit dem praktischen – sage hausbackenen – Leben verworfen hättest? Suchst Du nicht unsere Ideale zu zertreten, wo du kannst?“ –

„Ja, als giftiges Gewürm, als Hirngespinnste, die mit Moral und einem wirklich erhabenen Aufflug des Menschengeistes nichts gemein haben … Ihr in tiefster Seele Unadeligen! Ihr habt nicht einmal Raum für Dankbarkeit!“

„Ich würde Dir danken für das Brod, das ich gegessen habe – wenn ich nicht mehr von Dir zu fordern hätte!“ – brauste sie auf.

„Um Gotteswillen schweigen Sie, Charlotte!“ rief Fräulein Fliedner mit völlig entfärbtem Gesicht und erfaßte ihren Arm. Zornig schüttelte sie die alte Dame ab.

Herr Claudius maß, starr vor Ueberraschung, die dräuend gehobene Mädchengestalt von Kopf bis zu Fußen. „Und was forderst Du?“ fragte er mit der alten, vollkommenen Gelassenheit.

„Vor Allem Licht über meine Abkunft!“

„Du willst die Wahrheit wissen? –“

„Ja – sage sie – ich brauche sie nicht zu fürchten!“ stieß sie mit einer Art von Triumph heraus.

Er wandte ihr den Rücken und ging einmal im Zimmer auf und ab – es war so todtenstill, daß ich meinte, man müsse, das Klopfen der stürmisch aufgeregten Pulse hören.

„Nein, jetzt nicht – jetzt nicht, wo Du mich so tief gekränkt und beleidigt hast – es wäre unedle Rache!“ sagte er endlich vor ihr stehen bleibend. Er hob den Arm und zeigte nach der Thür. „Gehe – nie warst Du weniger fähig, die Wahrheit zu ertragen, als in diesem Augenblicke!“

„Ich wußte es!“ lachte sie auf und rauschte hinaus in den Corridor.

Fräulein Fliedner legte mir schweigend mit zitternden Händen einen frischen Umschlag auf den Kopf, dann ging sie hinüber, „um nur einmal nach den Herren zu sehen.“

Mir schlug das Herz – ich war allein mit Herrn Claudius. Er setzte sich neben mich auf einen Stuhl.

„Das war eine wilde Scene, nicht geeignet für diese erschrockenen Augen, die ich doch um Alles gern vor schlimmen Eindrücken behüten möchte!“ sagte er mit unsicherer Stimme. „Sie haben mich heftig gesehen – wie mir das leid ist! … Das schwache Vertrauen zu mir, das Sie mir heute gezeigt haben, ist nun wieder spurlos verflogen – ich kann mir das denken.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nicht?“ fragte er aufathmend und sein verschleierter Blick leuchtete. – „Eine Flamme züngelte mir nach dem Gehirn – ich kenne sie und habe sie stets unter meinen Fuß gezwungen, nur heute nicht, wo ich Ihren Aufschrei hörte und das Blut über Ihr blasses Gesichtchen rieseln sah.“ Er stand auf und durchmaß das Zimmer, als überwältige ihn der Eindruck nochmals.

Seine Augen schweiften über die Zimmerdecke und den altmodischen Kronleuchter.

„Das böse alte Haus!“ sagte er stehen bleibend. „Es webt ein schlimmer Zauber um diese Wände und Geräthschaften. … Ich kann jetzt begreifen, weshalb die Karolinenlust entstehen mußte – ich verstehe den alten Eberhard Claudius. … Meine schöne Urgroßmutter ist in diesen Mauern vergangen wie eine Blume – jenen schlichten, ruhigen Herzens gewählten Hausfrauen, deren genug hier geschaltet und gewaltet haben, sind sie eine stille, friedliche Heimath gewesen – einem abgöttisch geliebten Frauenleben aber ist das alte Haus stets gefährlich geworden.“

Mir ging die aufgeregte Stimme durch Mark und Bein. In diesen Tönen hatte er gewiß auch zu jener Treulosen gesprochen – wie war es möglich gewesen, daß sie ihn dennoch verlassen konnte? …

„Ihr unschuldiges Kindergemüth hat Sie instinctmäßig vor dem kalten, dunklen Vorderhaus zurückschaudern lassen,“ fuhr er fort, sich wieder zu mir setzend.

„Ja, das war im Anfang,“ unterbrach ich ihn lebhaft, „wo ich aus der Haide kam und jede unbekannte Mauer für einen Kerker hielt – das war sehr kindisch. … Auf dem Dierkhof ist’s ja auch nicht hell – da giebt’s alte blinde Scheiben genug, durch die die Sonne nur blinzelt, und in der Tenne ist’s kühl und dämmerig, mag auch draußen die ganze flimmernde Sonnengluth über der Haide liegen. … Nein, ich habe es jetzt lieb, das alte Vorderhaus, ich betrachte es mit ganz anderen Augen, und seit ich über Augsburg und die Fugger gelesen habe, ist mir’s immer, als müßten die Frauen mit dem Stirnschleier aus ihrem Rahmen steigen und mir in den Gängen und auf der breiten Steintreppe begegnen.“

„Ach, das ist die Poesie, mit der sich das Haideprinzeßchen auch die öde arme Heimath verklärt hat! … Sie würden mit ihr aushalten im alten Kaufmannshause und sich nicht hinüber in die Karolinenlust retten lassen?“

„Nein – es ist mir trauter und heimischer hier. … War denn Niemand im Vorderhaus, den die schöne Urgroßmutter lieb hatte?“ …

Was hatte ich denn gesagt, daß er zurückfuhr und mich wie versteinert ansah? …

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_816.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)