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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

wäre nicht Fräulein Fliedner ablenkend eingeschritten. Mit einem Blick auf Herrn Claudius’ finster gefaltete Brauen ergriff sie die Rose und steckte sie mir in die Locken.

„Sie sehen prächtig aus, kleine Orientalin!“ sagte sie, mich freundlich auf die Wange klopfend.

Charlotte lehnte sich in ihre Ecke zurück – tief, als schlafe sie, lagen die breiten dunklen Wimpern auf ihren heißglühenden Wangen – sie würdigte den Schmuck in meinem Haar nicht eines Blickes.

Trotz des häßlichen Wetters fanden sich noch einige Gäste aus der Stadt ein. Ein lebhafter Wortwechsel entspann sich sofort, und Charlotte erwachte aus ihrer scheinbaren Apathie – der Lockung, mit ihrer Conversationsgabe zu brilliren, konnte sie nicht widerstehen. Heute sprühte ihr Geist förmlich Funken; ich hatte sie noch nie so hinreißend beredt gesehen. Freilich klang ihr Spottgelächter oft grell und unharmonisch dazwischen, und das fast bacchantisch wilde Zurückwerfen und Emporschnellen der üppigen Gestalt, das ungezwungene Spiel der weißen vollen Schultern in dem die Büste nur lose umschließenden Kleid löschten den letzten Anhauch des Mädchenhaften von dem strahlenden Frauenbild – es war, als prickele es ihr elektrisch in jeder Fiber, als flösse nicht Blut, sondern Feuer durch ihre Adern. …

Mit einem Gemisch von Grauen und Bewunderung hing mein Blick wie festgebannt an ihr – da glitt langsam eine Hand vor meinen Augen nieder, als wolle sie mir den Blick verwehren – es war Herr Claudius, der neben mir saß. Zugleich forderte er Helldorf auf, ein Lied zu singen. Seine unverkennbare Absicht, durch den Gesang des jungen Mannes den witzsprudelnden rothen Mund dort für einen Moment wenigstens zum Schweigen zu bringen, mißglückte; Charlotte sprach, wenn auch mit etwas moderirter Stimme, weiter, als habe sie keine Ahnung davon, daß drüben am Flügel „der Wanderer“ von Schubert in tiefergreifender Gewalt gesungen werde.

„Wenn Du selbst keine Achtung vor der Musik hast, Charlotte, dann störe wenigstens den Genuß Anderer nicht,“ unterbrach sie Herr Claudius plötzlich streng und winkte Schweigen gebietend mit der Hand hinüber.

Sie fuhr zusammen und verstummte. Mit einer gleichgültig stolzen Bewegung ließ sie den Kopf auf die Sophalehne sinken, nahm eine der beiden dicken Locken auf, die ihr über den Busen herabhingen, und ließ sie in nervös aufgeregtem Spiel über die zuckenden Finger rollen. Sie hob nicht einmal die Lider, als der junge Mann wieder in das Zimmer trat und den begeisterten Dank der Anwesenden empfing.

Einer der Herren bat sie dennoch, ein Duett mit Helldorf zu singen.

„Nein, heute nicht – ich bin nicht aufgelegt,“ sagte sie in nachlässigem Ton, ohne ihre Stellung zu verändern, ja, ohne auch nur die Augen aufzuschlagen.

Ich sah, wie Helldorf’s schönes Gesicht bis in die Lippen bleich wurde. Er that mir unsäglich leid – ich konnte es nicht ertragen, daß ein Glied der mir so liebgewordenen Familie beleidigt wurde. Muthig erhob ich mich.

„Ich will das Duett mit Ihnen singen, wenn Sie es wünschen,“ sagte ich zu ihm – meine Stimme bebte freilich, denn mir selbst schien es, als thäte ich etwas Ungeheuerliches, etwas ganz Uebermenschliches.

Und er wußte das – er kannte meine Scheu vor fremden Zuhörern. … Mit einer lebhaften Bewegung zog er meine Hand an seine Lippen; dann traten wir an den Flügel.

Ich glaube, ich habe nie in meinem Leben so gut und ausdrucksvoll gesungen, wie an jenem Abend. Eine mächtige, wenn auch noch unbegriffene Erregung ließ mich die Angst überwinden, die meine ersten Töne umschleierte. … Schon während des Gesanges waren die Anwesenden geräuschlos, Eines nach dem Anderen, herübergekommen, und nach dem Schluß überschütteten sie uns mit Beifall; ich ganz besonders wurde von den alten Herren als Lerche, Flöte und Gott weiß was Alles bis zum Himmel erhoben.

Da kam auch Charlotte herübergerauscht. Sie stürmte auf mich zu und legte ihren Arm um meine Taille. Ich erschrak vor ihr – sie bog sich tief genug über mich, daß ich die funkelnden Thränen in ihren Augen sehen konnte, aber es waren Thränen des Zornes, die sie mit festzusammengepreßten Lippen und schwerathmender Brust gewaltsam niederzuschlucken suchte. Hätte ich damals nur entfernt begriffen, welcher Art die Leidenschaft war, die sie so furchtbar aufregte, wie leicht wäre es mir geworden, sie zu beschwichtigen, und wie gern hätte ich’s gethan! So aber überschlich mich ein unbeschreibliches Angstgefühl, und unwillkürlich strebte ich, mich aus der Umschlingung loszuwinden.

„Nun sehe Einer die kleine Haidelerche an!“ lachte sie auf. „Mit einem einzigen Griff könnte man dieses Vogelkörperchen zerdrücken,“ sie schnürte ihren Arm so fest um meinen Leib, daß mir der Athem stockte, „und das schmettert, daß die Wände zittern!“

Ehe ich mich dessen versah, hatte sie mich scheinbar kosend und hätschelnd aus dem Kreise der Umstehenden mehr in das Dunkel hineingezogen, – sie fuhr mit der Hand heftig über den Scheitel, und plötzlich flog die Rose aus meinen Locken weit in den anstoßenden Salon hinein.

„Kleine, reizende Coquette, Sie haben Ihre Rolle glanzvoll durchgeführt – wer hätte gedacht, daß solch ein gefährliches Element in dem Barfüßchen stecke!“ raunte sie mir mit mühsam beherrschter Stimme zu. „Wissen Sie auch, wie man es mit den Gefeierten macht?“ rief sie lauter. „Man hebt sie hoch über den gemeinen Menschentroß. … Sehen Sie, so, so – Sie federleichtes Ding, Sie allerliebstes Nichtschen!“

Ich schwebte plötzlich hoch droben in der Luft und hätte den Stuck des Plafonds mit den Händen berühren können, denn das obere Stockwerk des Vorderhauses war ziemlich niedrig. Auf den riesenstarken Mädchenarmen war ich allerdings eine gen Himmel gewehte Flaumfeder, ein schwaches Geschöpf mit wehrlosen Kinderhänden, ein Nichts; selbst über meine Stimme hatte ich keine Macht, Scham und Schrecken schnürten mir die Kehle zu – ich wähnte mich in der Gewalt einer Wahnwitzigen.

Lachend flog sie mit mir durch die Zimmer, während ich unwillkürlich die Augen schloß. … Da durchfuhr jäh ein schmetternder Schlag meinen Kopf – wir waren gegen den tiefniederhängenden schweren Bronzekronleuchter im letzten Salon gerannt. Ich stieß einen zitternden Schrei aus – die Anwesenden stürzten auf uns zu, während meine Trägerin mich erschrocken niedergleiten ließ. Wie durch einen Schleier sah ich nur noch, daß Herrn Claudius’ Arme mich auffingen – dann legte sich ein rätselhaftes Dunkel über mich.

Wie lange diese Betäubung angedauert, weiß ich nicht – aber es kam mir vor, als erwache ich allmählich und zwar ganz in der Weise, wie ich als Kind so oft auf Ilse’s Schoß aufgewacht war. Ich fühlte mich sanft umschlungen, und an meinem Ohr hin strich dann und wann ein geflüsterter Hauch, den ich nicht verstand, und der mir doch genau so klang, wie Ilse’s scheu kosende Schmeichelnamen, die ich eigentlich auch nicht hören sollte. Aber das Herz, an welches mein Kopf gedrückt wurde, war ein heftig klopfendes – das war anders als bei Ilse. … Erschrocken schlug ich die Augen auf und sah in ein völlig entfärbtes Gesicht, dessen Ausdruck voll leidenschaftlicher Angst ich nie vergessen werde.

Ich begriff plötzlich die Situation, in der ich mich befand, und bog erglühend den Kopf weg, der bei der heftigen Bewegung zu schmerzen anfing. Sofort zog sich der Arm von meinen Schultern zurück, und Herr Claudius, der neben mir auf dem Sopha gesessen hatte, sprang auf.

„Ach, mein liebes, süßes Kindchen – Gott sei Dank, da sind ja Ihre großen Augen wieder!“ rief Fräulein Fliedner, die eben ein Leinenstück in einer Porcellanschüssel ausrang, mit bebender Stimme hinüber.

Ich griff nach meinem Kopf, er war verbunden, und an der linken Schläfe nieder sickerte das kühle Wasser des Umschlags. Schneller, als ich selbst gedacht hätte, war ich Herr über meine Nerven und die wunderbare, ungekannte Empfindung, die mich für einen Augenblick so unbeschreiblich süß und beseligend durchschauert hatte. … Voll Angst dachte ich an Charlotte und das Strafgericht, das über sie ergehen würde – ich mußte so schnell wie möglich wieder heil und gesund auf meinen Füßen stehen.

„Was habe ich denn für Streiche gemacht?“ fragte ich, mich energisch aufrichtend.

„Sie sind ein klein wenig in Ohnmacht gefallen, Herzchen,“ sagte Fräulein Fliedner sichtlich erfreut über meine Munterkeit.

„Wie, ein so schwaches Geschöpf bin ich? … Wenn das

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