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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 49.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


26.

Am Nachmittag nahm ich den mir anvertrauten Gartenschlüssel und ging hinüber in das Schweizerhäuschen. Ich wußte, daß Gretchens Vater Lehrer an der höheren Töchterschule zu K. war – er sollte mir helfen, ein anderes Menschenkind zu werden. Es bedurfte keiner langen Vorstellung in der Familie. Frau Helldorf erkannte mich sofort wieder – wie ich später erfuhr, hatte auch der Gärtner Schäfer bereits viel von dem wilden, sonderbaren, so plötzlich hereingeschneiten Kind des „gelehrten Herrn“ erzählt – und Gretchen flog mir um den Hals. Der Vorfall im Garten, den ich verschuldet, wurde mit keiner Silbe erwähnt.

„Wollen Sie mir Unterricht geben?“ fragte ich den Oberlehrer Helldorf, der vor einem ungeheuren Paket Schulheften corrigirend saß. „Ich will lernen, so viel lernen, wie nur in meinen Kopf hineinzubringen ist! Ich bin schon ein so sehr altes Mädchen und kann nicht einmal ordentlich schreiben.“ Er lächelte, und seine reizende kleine Frau auch, und wir machten einen festen Contract, nach welchem ich wie ein Kind der Familie im Schweizerhäuschen aus– und eingehen und täglich mindestens drei feste Unterrichtsstunden erhalten sollte. Diesen Contract theilte ich Fräulein Fliedner mit; sie erklärte sich damit vollkommen einverstanden und übernahm es auf meine Bitten, die Geldangelegenheit dabei zu besorgen – so brauchte ich doch nicht in Herrn Claudius’ Schreibzimmer zu gehen.

Ich lernte von da ab unermüdlich. Freilich flog die Feder anfangs oft genug unter den Tisch, und ich rannte mit heißem Kopf und thränengefüllten Augen in den Wald hinein – aber ich kehrte auch aufseufzend wieder um, nahm den kleinen, stählernen Tyrannen langsam vom Boden auf und malte weiter, bis das Nachmalen allmählich aufhörte, und die festen hübschen Züge, flink über das Papier hinlaufend, der Ausdruck lebendiger Gedanken wurden – da fiel es mir wie Schuppen von den Augen! … Ich kam zur Freude meines Lehrers unglaublich rasch vorwärts, und nun dehnte sich der anfangs auf wenige Fächer beschränkte Unterricht auch auf die Musik aus. Hier kam mir meine natürliche Begabung sehr zu statten, und bald stand ich am Klavier neben dem jungen Helldorf und sang Duetten mit ihm.

Dieser Verkehr im Schweizerhäuschen, den mein Vater billigte und welchen Herr Claudius und Fräulein Fliedner offen protegirten, wurde von anderer Seite mit grimmigen und scheelen Augen angesehen. Eckhof war wüthend, und Charlotte in einer mir unbegreiflichen Weise indignirt und hämisch. Ich erfuhr nun auch Näheres über den Conflict zwischen dem alten Buchhalter und seiner Tochter. Helldorf hatte Theologie studirt und sich schon als Student mit Anna Eckhof verlobt. Der alte Mystiker war damit einverstanden gewesen, hatte aber die Bedingung gestellt, daß der junge Mann nach vollendeten Studien als Missionär – und zwar als ein auf sämmtliche lutherische Bekenntnißschriften streng verpflichteter Missionär – mit seiner Frau nach Ostindien gehen solle. Diese Clausel war dem Bräutigam allmählich drückend geworden, er verwahrte sich schließlich energisch dagegen und demaskirte sich als entschiedener Feind alles pietistischen Wesens und der frommen Phrase. Zudem erklärte der Arzt die Constitution des jungen Mädchens für viel zu zart, als daß ihr das aufregende, an Entbehrungen reiche Leben einer Missionärfrau zugemuthet werden dürfe. Den Alten hatte das völlig ungerührt gelassen – fanatisch genug hatte er gemeint, der Herr werde ihr schon die Kraft durch seine Gnade geben, und wenn nicht, dann gehe sie ja ein zu ihm als echte, rechte Streiterin der heiligen Kirche. … Er hatte sie verstoßen, als Helldorf fest bei seiner Weigerung geblieben war, und sie nicht von dem Manne ihres Herzens lassen wollte. …

Den Groll des alten Mannes über die plötzlich durchbrochene Scheidewand zwischen dem verfehmten Nachbarhaus und dem bisher von ihm beherrschten Grund und Boden begriff ich deßhalb vollkommen; was aber bewog Charlotte, meinen Umgang mit der Lehrerfamilie anzufeinden? … Zornig sagte sie mir wiederholt in’s Gesicht, sie begriffe nicht, wie Herr Claudius in meine achtlosen Kinderhände den Schlüssel zu einer Thür legen könne, an welcher der öffentliche Fahrweg vorüberliefe – eines schönen Tages werde ja wohl alles Bettelvolk den Garten überschwemmen. Sie behauptete, ich sei unleidlich hochmüthig geworden, seit mir die Gelehrsamkeit mit dem Nürnberger Trichter beigebracht werde; von dem „reizend natürlichen Haideprinzeßchen“ finde sich keine Spur mehr, und meine Locken ordne ich plötzlich mit einem Chic, der auf eine bedeutende Portion Koketterie schließen lasse. Noch grimmiger und verbissener aber wurde sie, als der Musikunterricht begann. Ich traf sie oft hinter der Gartenmauer, wenn ich nach dem Schluß der Stunde rasch eintrat, mit sprühenden Augen,

aber dennoch in fast verletzend nachlässiger Weise meinte sie stets,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 809. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_809.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)