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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

eine Frau lieb gehabt, so lieb – nun das mag ich Ihnen nicht des Breiteren schildern. Weiter besaß er einen Freund, dem er sein ganzes Vertrauen geschenkt, und für welchen er sich vielfach aufgeopfert hatte. … Eines Tages nun muß sich der Ahnungslose überzeugen, daß die Frau und der Freund ihn betrügen, daß sie beide treulos sind. … Es ist zu einer heftigen Scene gekommen, und es sind Worte gefallen, die, wie es die abscheuliche Sitte unter Männern verlangt, nur durch Blut gesühnt werden konnten. – Sie haben sich duellirt, der verrätherischen Frau wegen; der Freund –“

„Der junge Eckhof?“ warf ich hastig dazwischen.

„Ja, der Sohn des Buchhalters – er hat einen Schuß in die Schulter bekommen, und Herr Claudius ist ziemlich schwer am Kopfe verletzt worden – seine Augenschwäche stammt aus jener Zeit. … Die Wunde Eckhof’s ist an sich nicht gefährlich gewesen, aber seine bereits sehr zerrüttete und geschwächte Constitution hat ihn im Stiche gelassen – nach mehrwöchentlichem Krankenlager hat er sterben müssen, trotz aller Bemühungen der ausgezeichnetsten Aerzte –“

„Und die Frau, die Frau?“ unterbrach ich sie.

„Ja, die Frau, mein liebes Kind, die hatte Paris längst verlassen, als Herr Claudius von seinem Schmerzenslager aufstand, sie war mit einem Engländer abgereist.“

„Sie war schuld an seinen Leiden und ist nicht gekommen, abzubitten und ihn zu pflegen?“

„Mein kleines Mädchen, sie war eine Dame vom Theater – sie hat dieses Blutopfer als eine Huldigung ihrer gefährlichen Schönheit hingenommen und sich durchaus nicht verpflichtet gefühlt, abzubitten, noch weniger aber die Wunde mit ihren verwöhnten Händen zu heilen. … Damals, kurze Zeit nach seiner Genesung, kam Herr Claudius hierher – sein Bruder war – gestorben und hatte so manche Anordnung in die Hände seines Erben niedergelegt. … Nach langer Trennung sah ich ihn zum ersten Mal wieder – ich habe nie in meinem ganzen Leben einen Menschen so furchtbar leiden sehen, als diese junge, aus allen Fugen gerissene Männerseele.“

„Er hatte Gewissensbisse?“ –

„Das weniger – er konnte die Frau nicht vergessen. … Wie wahnsinnig lief er stundenlang durch die Gärten, oder raste mit den Händen über die Tasten –“

„Der ernsthafte, ruhige Herr Claudius?“ fragte ich athemlos vor Ueberraschung.

„Das war er eben damals nicht. … Er suchte Ruhe und Beschwichtigung in der Musik, und wie spielte er! Ich begreife sehr wohl, daß ihm Charlottens Trommeln oft geradezu zur Qual wird. … Er hielt nicht lange hier aus. Ein Jahr noch reiste er ziellos durch die Welt, dann kam er zurück, völlig umgewandelt, und nahm als der ernste, strenge, schweigsame Mann, als den Sie ihn kennen, das Geschäft in die Hand. … Ich habe ihn nie wieder eine Taste berühren sehen, ich habe nie wieder ein leidenschaftliches Wort von ihm gehört, eine heftige Bewegung an ihm bemerkt. Er hatte anders überwunden, als sein Bruder, der an seinem Seelenschmerz zu Grunde gegangen war – sein starker Geist hat ihn das richtige Beschwichtigungsmittel, die Arbeit, finden lassen. Und so ist er das geworden, was er heute noch ist, ein Arbeiter im strengsten Sinn des Wortes, ein stahlharter Charakter, der in Ordnung und Thätigkeit den Gesundbrunnen für die Menschenseele sieht, und sie überall angewendet wissen will.“

Fräulein Fliedner hatte mit einer Lebhaftigkeit gesprochen, wie ich sie an der zwar immer anmuthig liebenswürdigen, aber auch stets sehr zurückhaltenden alten Dame noch nicht gesehen – sie hatte sich offenbar hinreißen lassen. Und ich saß an ihrer Seite und sah mit zurückgebaltenem Athem in eine ungekannte Welt – ein Wunder war sie für mich, die leidenschaftliche Liebe des Mannes zum Weibe! Meine geliebtesten Zaubergeschichten erblaßten und verloren ihren Glanz und Reiz neben dieser Erzählung aus der Wirklichkeit. … Und der Mann, der die treulose Frau nicht vergessen konnte, den der Schmerz um ihren Verlust wie wahnsinnig durch die Gärten gejagt hatte, es war Herr Claudius gewesen – er konnte sich wirklich Etwas so tief zu Herzen nehmen? …

„Liebt er wohl die Frau noch immer?“ unterbrach ich mit leiser Stimme das plötzlich eingetretene tiefe Schweigen.

„Mein Kind, darauf kann ich Ihnen nicht antworten,“ sagte lächelnd die alte Dame. „Meinen Sie wirklich, es wisse irgend ein Mensch, was in Herrn Claudius’ Innerstem vorgeht? … Sie kennen ja sein Gesicht und Wesen und nennen es selbst ernsthaft und ruhig – seine Seele ist für Alle ein zugeschlagenes Buch. … Uebrigens kann ich mir kaum die Möglichkeit denken; er muß ja die Frau verachten.“

Es war dunkel geworden. Fräulein Fliedner hatte vorhin ein Fenster geöffnet, weil es schwül im Zimmer war, der plätschernde Regen hatte aufgehört. In der abgelegenen Mauerstraße war es still, aber fern, von den frequenten Plätzen, dem Knotenpunkt der Stadt her, drang in an- und abschwellendem Summen das Getöse des lebendigsten Menschenverkehrs. An der gegenüberliegenden Straßenseite hüpften die Gaslichter eines nach dem anderen auf – sie spiegelten sich in den trüben Regenlachen des Pflasters und zeigten, wie schwarz und dräuend der Himmel noch über der Stadt hänge. … Auch in das Zimmer herein, wo wir lautlos schweigend nebeneinander saßen, fiel ihr schwacher Schein, und ich bat Fräulein Fliedner, keine Lampe anzuzünden, es sei hell genug – ich fürchtete mich, in das Gesicht der alten Dame zu sehen, weil ich wußte, daß es angstvoll und tiefbesorgt aussehen müsse.

Da kamen schallende Schritte das Trottoir entlang, und im Vorübergehen, unter dem offenen Fenster, sagte eine hastig erzählende Stimme: „Eine gelähmte Frau, die sich nicht hat retten können, ist ertrunken! … Es soll schrecklich draußen sein!“

Wir fuhren empor, und Fräulein Fliedner begann rastlos im Zimmer auf- und abzugehen. … Nun erscholl auch lebhaftes Sprechen in der Hausflur. „Noch keine Nachricht aus Dorotheenthal?“ hörten wir Charlotte über das Treppengeländer herabrufen, als Fräulein Fliedner die Thür öffnete.

„Von unseren Leuten ist noch keiner zurück,“ antwortete der alte Erdmann. Er stand inmitten der dienstbaren Geister des Hauses und seine rauhe Stimme zitterte. „Aber Andere erzählen, es sei zu schlimm draußen,“ fuhr er fort, „und unser Herr ist der erste Mann beim Retten – daß Gott erbarm, er fragt viel danach, ob solch eine Nußschale umkippt! … Dafür sind doch auch andere Leute da! … Der Herzog soll auch draußen sein.“

„Wie, Seine Hoheit selbst?“ rief Dagobert herab.

Erdmann bejahte. Die Thür droben wurde zugeschlagen, aber gleich darauf kam der Herr Lieutenant die Treppe herab – er ließ sich sein Pferd vorführen und jagte davon – der schöne Tancred – wie erbärmlich erschien er mir jetzt!

Ich kauerte mich wieder in die Sophaecke, während Fräulein Fliedner tief aufseufzend in die Fensternische trat. … Ich mußte an das Wasser denken, wie es wüthend über die Erde hin tobte und die Menschen erstickte, die sich nicht retten konnten! Es mußte schrecklich sein, in den trüben tosenden Wassern umzukommen! Aber „Herr Claudius fragte viel danach, ob die Nußschale umkippte“, wie der alte Erdmann sagte, er hatte die Welt und die Menschen und das eigene Leben wohl nicht mehr lieb, und er hatte auch Recht. Die Frau, die er nicht vergessen konnte, war falsch gewesen, und die Geschwister und der alte Buchhalter waren es auch, und ich, für die er so viel Güte zeigte, ich hatte vor wenig Stunden erdrückende Beweise gegen ihn und sein Handeln an das Tageslicht gebracht. … Nur Fräulein Fliedner hielt zu ihm – ich sah mit einer Art von Neid nach der kleinen zierlichen Gestalt hinüber, die regungslos im Fenster verharrte; sie hatte ein gutes Gewissen, sie hatte ihm nie etwas zu Leide gethan, sie brauchte sich mit keinem Vorwurf zu quälen, wenn – die Wasser über den edeln blonden Kopf hinweggingen. Fast hätte ich aufgeschrieen bei dieser Vorstellung, aber ich biß die Zähne zusammen, und begann von Neuem angstvoll auf jeden Schritt, jedes ferne Räderrollen zu horchen.

So verrann Stunde um Stunde. Mein Vater war auch noch nicht heimgekommen – auf Fräulein Fliedner’s Befehl hatte Erdmann in der Karolinenlust nachsehen müssen. … Ganz beschwichtigt hatte sich der Lärm der aufgeregten Stadt noch nicht, aber es war stiller geworden – Mitternacht kam heran. … Da bog ein Wagen in die Mauerstraße ein – mit einem leisen Aufschreien, einem Gemisch von Angst und Freude, fuhr die alte Dame empor, und ich flog durch die Hausflur und riß die Hofthür auf. Ein fast greifbares Dunkel lag über der Erde, aber ich lief blindlings hinein, dem daherbrausenden Wagen entgegen.

„Sind Sie es selbst, Herr Claudius?“ rief ich mit bebender Stimme über das Rädergerassel hinweg.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_796.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)