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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 48.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)

Es war vermessen, inmitten dieses Aufruhrs den sorgfältig gehüteten Nachlaß todter Menschen verstohlenerweise aufzuwühlen – ich dachte es zitternd und mit angstvoll klopfendem Herzen; aber ich schwieg – was vermochte meine schwache Stimme gegen die Leidenschaft und – jetzt fand ich das rechte Wort für Charlottens rasendes Gebahren – gegen diese Gier nach hoher Lebensstellung und Auszeichnung?

Die Beiden standen vor dem Schreibtisch, den ich neulich so streng respectirt, daß ich kaum den Athem darüber hatte hinstreifen lassen – jetzt waren mit Gedankenschnelle alle darauf befindlichen Gegenstände durcheinander geworfen.

„Hier Mama’s Wappen auf Petschaft, Schreibzeug und Briefbogen!“ sagte Charlotte – noch zitterte ihre Stimme; aber in ihre Haltung war die stolze Ruhe und Sicherheit zurückgekehrt. „Und da verschiedene alte Briefhülsen.“ – Sie zog die Couverts unter einem Briefbeschwerer hervor. – „An Ihre Hoheit die Prinzessin Sidonie von K. Luzern,“ las sie. „Da sieh, Dagobert, diese Briefe sind sämmtlich in der Schweiz gewesen, sie tragen alle Postzeichen. Jedenfalls war eine Vertraute an Mama’s Stelle stets auf der Reise, hat die Briefe in Empfang genommen und in die geheimnißvolle Karolinenlust geschickt.“

Dagobert antwortete nicht. Er rüttelte an dem Schloß des Tisches – der Schlüssel fehlte; nach Eckhof’s Aussage aber enthielt ja dieser Kasten, der förmlich festgemauert in seinen Fugen saß, Lothar’s Brieftasche mit den Documenten. Achselzuckend, mit finsterer Stirn wandte sich Dagobert ab, trat, den Vorhang zurückschiebend, in eine der Glasthüren und sah hinaus in das Wetter, während Charlotte die Couverts achtlos auf den Tisch warf und an das entgegengesetzte Ende des Saales schritt. Da stand ein Flügel – ich hatte ihn neulich bei meiner eiligen Flucht nicht bemerkt. Charlotte schloß ihn sofort auf und griff ohne Weiteres in die Tasten, die vielleicht nie wieder hatten berührt werden sollen – sie wenigstens wehrten sich, sie hatten ja Stimmen, in entsetzlicher Dissonanz; von dem Klirren gesprungener Saiten begleitet, schrillten die Töne so nervenerschütternd gegen die Wände, daß selbst die starke Charlotte zurückfuhr und entsetzt den Deckel zuschlug. Sie war erschrocken; aber von jener herzbeklemmenden Scheu, jenem Gefühl ängstlicher Pietät, mit denen ich allen diesen leblosen Gegenständen eine Art von empfindlicher Seele andichtete, schien nicht eine Spur in ihr zu leben. Sie griff nach den Notenheften, die auf dem Flügel lagen, und wühlte zwischen ihnen, bis sie abermals aufschrie und plötzlich mit halb unterdrückter, aber dennoch jubelnder Stimme „Già la luna in mezzo al mare“ in den Saal hineinsang.

„Dagobert, da ist’s, was Mama in Madame Godin’s Salon gesungen hat, da ist’s – hier, hier!“ unterbrach sie sich und schwenkte das Notenheft in der Luft. Ich hörte nicht, daß ihr Bruder antwortete, und wandte mich um. Er stand mit dem Rücken gegen uns und bückte sich über den Schreibtisch. Mit einigen raschen Schritten stand ich an seiner Seite.

„Das dürfen Sie nicht!“ sagte ich – ich erschrak vor meiner eigenen Stimme, so tonlos und bebend klang sie; trotzdem sah ich ihm muthig in das Gesicht.

„Ei, was darf ich denn nicht?“ fragte er spöttisch, ließ aber doch die Hand sinken, in welcher er irgend ein Instrument hielt.

„Das Schloß erbrechen,“ versetzte ich fester. „Ich bin schuld, daß Sie hier sind hinter den Siegeln, ich habe Sie dazu verleitet; es ist ein großes Unrecht, ich sehe das sehr wohl ein. … Mehr aber darf nun auch nicht geschehen, ich leide es nicht!“ brauste ich auf, als ich sah, daß er trotzdem die Hand wieder hob.

„Wirklich?“ lachte er. Das war seltsam – seine Augen irrten über mich hin und entzündeten sich in einem Feuer, wie ich sie nie gesehen. „Wie wollen Sie denn das anfangen, Sie zerbrechliches, quecksilbernes Geschöpfchen?“ fragte er spottend und steckte rasch das Instrument in das Schloß – ich hörte es drinnen knistern und knacken. Angstvoll, aber auch zornig ergriff ich mit beiden Händen seinen Arm und suchte ihn zurückzuziehen – da fühlte ich in demselben Augenblick meine Taille umschlungen und heftig gepreßt, und Dagobert flüsterte mir in das Ohr: „Kleine wilde Katze, berühren Sie mich nicht und sehen Sie mich nicht so an – es ist gefährlich für Sie! Ihre berauschenden Augen haben mir’s schon in der ersten Stunde angethan! Gerade Ihre wilde Bosheit reizt mich, und wenn Sie wieder nach mir schlagen, wie heute auf der Treppe, dann ist’s erst recht um Sie geschehen – reizende, geschmeidige Eidechse!“

Ich schrie auf, und er ließ mich los.

„Was treibst Du denn für Possen, Dagobert!“ schalt Charlotte herbeieilend. „Das Kind lässest Du mir in Ruhe – ich bitte mir’s aus! Das ist nichts für Eure Lieutenantslaunen. … Lenore steht unter meinem Schutz und damit basta! … Uebrigens hat sie Recht, die kleine Unschuld! Was wir hier verschlossen finden, dürfen wir nicht gewaltsam öffnen. … Was nützen uns

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 793. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_793.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)